Mittwoch, 19. November 2025

Vicki Baum: Der Eingang zur Bühne

Buchinfo

Um Kammersänger Hannes Rassiem, den angebeteten Lehrer am Konservatorium und gefeierten Tenor der Wiener Hofoper, kreisen alle sehnsuchtsvollen Gedanken und Wünsche der Gesangsschülerinnen Elisabeth Kerckhoff und "Dima" Dimatter. Während die schmalgliedrige, kindlichzarte Elis zu entsagungsvoller Träumerei neigt - ein Hang, der sich auch in ihrer Vorliebe für schwermütige Schubertlieder äußert - bringt die vitale und leidenschaftliche Dima sowohl stimmlich als auch vom Temperament her alle Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere mit. An der Seite Hannes Rassiems, dessen „Tristan" nie hinreißender gewesen ist, singt sie die Isolde. In einer Loge aber stirbt, berauscht nicht nur von der Droge Wagnerscher Musik, die kleine Elis den Liebestod. Sie hat eine Überdosis Morphium genommen und läßt sich, während Musik und Gift ihre Wirkung tun, in eine andere Welt hinübergleiten .. .

Zitat

Nach Hause gehen, dachte sie, sich hinlegen, nicht an ihn denken, ein Buch lesen; Elis hatte ihr neulich eines in die Hände geschoben, Wagners Aussprüche über "Tristan und Isolde". Da konnte man lernen. Ihre Gedanken sprangen erlöst von Rassiem ab und wanderten in jene hyazintheblaue Tristannacht, die zu gestalten war und schwere Rätsel aufgab. Auf der Treppe, die voll von summenden Menschen war, wurde ihr etwas Warmes, Unangenehmes auf den Nacken gelegt, ein Atem kam ihr nahe. Sie traf Herrn Blaulichs erhitztes Gesicht, dicht neben ihrem.

Vicki Baum: Hotel Shanghai

Buchinfo

Ein tragisch-melancholischer Gesellschaftsroman über eine Stadt am Vorabend ihrer Bombardierung

"Hotel Shanghai", erschienen 1939, gilt als "Meisterwerk der populären Literatur" und ist doch viel mehr: Die Geschichte von neun Menschen, die zu Beginn des chinesisch-japanischen Krieges aus den verschiedensten Teilen der Welt in einem Hotel zusammentreffen und am Ende durch eine Bombe getötet werden, ist ein Plädoyer für den Frieden und das Leben in seiner vielfältigen, hinreißenden Gestalt.

Vicki Baum schrieb von den 1920er- bis in die 1950er-Jahre zahllose Bestseller und führte das Leben eines Weltstars. Zur Würdigung dieser außergewöhnlichen Schriftstellerin wurden ihre bekanntesten Romane neu aufgelegt.


Buchbeginn

Chang war auf einem Boote geboren, in der Nacht kam er zur Welt, der Fluss leckte mit kleinen Tönen gegen die Planken, die Mutter löste ihn mit einem rostigen Messer von sich los. Am Morgen war sie tot. Er hatte keinen Vater, das Boot war Haus und Wohnung für viele Menschen seiner Familie und ihre Kinder. Mit den Augen, die an seinen Bug gemalt waren, suchte es seinen Weg. Eine Matte über den gerundeten Bambusspreizen war ihr Dach. Seine Schwester, sieben Jahre älter als er, ging in das reiche Dorf, bei dem sie ankerten, und bat um Bohnen für das mutterlose Kind; daraus presste sie eine dünne Milch, die er hungrig von ihren Fingerspitzen saugte. So blieb er am Leben. 

Vicki Baum: Der Weihnachtskarpfen

Kiepenheuer & Witsch, 2021

Buchinfo

Vicki Baums Erzählungsband Der Weihnachtskarpfen in einer großartig gestalteten Neuausgabe. Zeitlose Geschichten, in denen in klaren Worten von Menschen berichtet wird, denen Hunger, Krieg und Tod begegnen – und die dennoch um Menschlichkeit und Würde ringen. 

"Vermutlich das Anständigste, was ich geschrieben habe", urteilte die Autorin selbst kokett über ihre Erzählungen. Gleich die erste des Bandes, "Der Weg", brachte ihr den Hauptpreis eines Wettbewerbs ein und das besondere Lob eines Jury-Mitglieds: Thomas Mann. Baums berührende, fein beobachtete Geschichten wirken beeindruckend modern. Und bei aller Unterhaltsamkeit verhandeln sie wie nebenbei die ganz großen Themen der Existenz: Krieg, Liebe und Tod.

Buchbeginn

Frau Kreitlein öffnete die Türe mit einer Gebärde, als handle es sich um den Eintritt in ein Raritätenkabinett. "Das wäre die Stube", sagte sie und schaute der Dame erwartungsvoll auf den Mund.
 

Friederike Mayröcker: Requiem für Ernst Jandl

Buchinfo

Ein halbes Jahrhundert gemeinsamen Lebens, und das hieß ganz selbstverständlich auch: gemeinsamer literarischer Arbeit, verband und verbindet Friederike Mayröcker und Ernst Jandl. Unmittelbar nach dem Tod des Gefährten im Frühsommer des Jahres 2000 hat Friederike Mayröcker den Schmerz des Verlustes in einer stillen und zugleich leidenschaftlichen Todesklage zu bewältigen versucht, die zu einem Gesang von berückender Intensität wird. In diesem Dokument von tapferster Zartheit ruft sie Erinnerungen an Erlebnisse der gemeinsamen Jahre auf, macht sich Offengebliebenes jäh bewußt, liest Jandls Texte neu. Vor einer plötzlichen und existentiellen Leere erschreckend, fragt sie nach Möglichkeiten und Weisen des Weiterlebens und 
-arbeitens und hört nicht auf, zu einem Gegenüber zu sprechen. "Der Verlust eines so nahen Menschen, eines Hand- und Herzgefährten ist etwas ganz und gar Erschütterndes, aber vielleicht ist es so, daß man weiter mit diesem Herz- und Liebesgefährten sprechen kann nämlich weiter Gespräche führen kann und vermutlich Antworten erwarten darf. Einer einstmals so stürmischen Aura, nicht wahr. Jetzt gestammelt gehimmelt, und weltweit."


Zitat

"... ich schaffe mir Bücher an, die ich wohl kaum in der restlichen Lebenszeit werde lesen können. Aber ich besitze sie, ich kann sie berühren, darin blättern, schon blitzt die Erleuchtung. Ich lese wieder und wieder das zuletzt geschriebene Gedicht, falte es und lege es in meine Schultertasche, daß ich es immer bei mir tragen kann, in der Hoffnung, es bald durch 1 neues ersetzen zu können. [...] Ich lese Briefe an mich, manchmal sind sie wie erregende Botschaften, eben wie Bücher." 

Marlene Krisper: Das ,ordentliche' Leben der Marlen Haushofer - Ein Essay

Ennsthaler Verlag Steyr
2., korrigierte Auflage 2010
978-3850688345

Buchinfo

Marlen Haushofers Frauengestalten in ihren Romanen und Erzählungen sind alle autobiographisch gefärbt, von ihr "abgespaltene Persönlichkeiten", die sich mosaikartig zu einer Figur zusammenfügen.
Es sind, wie die Autorin selbst, Frauen der Nachkriegsgeneration, dem Wiederaufbau und dem beruflichen Erfolg des Mannes verpflichtet. Sie sind eingebunden in einen zeitlichen Kontext der 1950er und 1960er Jahre mit ihren Zwängen und moralischen Tugendvorstellungen. Sie bewegen sich zwischen Rollenanpassung und Aufopferung, zeitweise in Widerstand und Resignation. Sie versuchen mittels Ordnungsstrategien eine Orientierung in ihr Leben zu bringen. Diese Versuche sind letztlich zum Scheitern verurteilt.
Marlen Haushofer ist - wie es aus diesem Essay hervorgeht - nicht die einzige ihrer Generation, die diese verzweifelten Versuche unternimmt.

Buchbeginn

Alles Schreiben ist Fiktion.

Ob über erfundene Protagonisten oder über sich selbst macht wenig Unterschied. Und alles ist Erinnerung, ein Hinterherschreiben, im Moment des Schreibens schon vergangen, gefiltert und verfremdet. Sobald Leben in Schreiben übergeht, wird Erlebtes zur Reflexion.

Sonntag, 16. November 2025

Vicki Baum: Menschen im Hotel

Buchinfo

Vicki Baums zeitloser Klassiker erzählt die Geschichte einer Handvoll Menschen, die an entscheidenden Wendepunkten in ihrem Leben stehen und im Berliner "Grand Hotel" zufällig aufeinandertreffen: die alternde, einsame Ballerina Grusinskaja, die ihr Bühnencomeback vorbereitet, der Hochstapler Baron Gaigern, der es auf Grusinskajas Perlen abgesehen hat, der todkranke Buchhalter Kringelein, der in seinen letzten Tagen aus der gewohnten Rolle ausbrechen und das Leben kennenlernen will, sein Chef, der Fabrikant Preysing, der verzweifelt versucht, seine bankrotte Firma zu retten, und die lebenslustige Sekretärin Christine Flamm, genannt Flämmchen. Vor der Kulisse des luxuriösen Hotels verflechten sich ihre Wege nur für kurze Zeit, aber sie alle werden durch die flüchtige Begegnung tief berührt und verändert - keiner von ihnen wird das Hotel so verlassen, wie er es betreten hat.
Mit "Menschen im Hotel" schrieb Vicki Baum einen einzigartigen Roman voller Wärme und Melancholie, der heute noch durch seine Leichtigkeit und feine Ironie besticht. 1932 wurde er unter dem Titel "Grand Hotel" mit Greta Garbo, Joan Crawford und Lionel Barrymore verfilmt und mit einem Oscar als Bester Film ausgezeichnet. Bis heute wurde der Roman in mehr als 20 Sprachen übersetzt.

Buchbeginn
Als der Portier aus der Telefonzelle 7 herauskam, war er ein wenig weiß um die Nase herum; er suchte seine Mütze, die er im Telefonzimmer auf die Heizung gelegt hatte. "Was war's denn?", fragte der Telefonist an seinem Schaltbrett, Hörer vor den Ohren und rote und grüne Stöpsel in den Fingern.

Samstag, 15. November 2025

Werden Frauen in der Literatur benachteiligt?

Die Antwort darauf lautet oft „Nein“. Schließlich leben wir in einer Zeit und einem Staat, in dem Frauen doch gleichberechtigt sind. Das hat übrigens auch schon die inzwischen nicht mehr existierende DDR von sich behauptet.

Natürlich ließe sich die Frage auf viele Lebensbereiche ausweiten – ich bleibe hier jedoch bei der Literatur. Ich möchte dabei keine Debatte eröffnen, die sich für mich bisher als wenig fruchtbar erwiesen hat, ja, bei der ich mich teilweise sogar beleidigen lassen musste. Und es sind nicht nur Männer, die dieses „Nein“ vertreten – auch viele Frauen sind der Meinung, dass Gleichberechtigung längst erreicht sei. Wozu also noch Feminismus, wozu überhaupt auf mögliche Ungleichheiten aufmerksam machen?

Meiner Meinung nach ist #frauenzählen immer noch notwendig. Das lässt sich gut an einigen Büchern zeigen, in denen es um Schriftstellerinnen* gehen sollte – in denen Frauen aber dennoch deutlich unterrepräsentiert sind.

Die folgenden Beispiele stammen nur aus meinem eigenen Bücherregal – und diese Liste ließe sich zweifellos noch erweitern.


Edition Neue Texte: Wie ich lesen lernte (DDR)
Frauen 1
Männer: 17

Kirsten Wulf, Paul Konrad: Das Rendezvous im Zoo - Liebesgeschichten (DDR)
Frauen: 3
Männer: 40

Rolf Vollmann: Der Romannavigator
Frauen: 20
Männer: 178

Rainer Moritz: Unbekannte Seiten
Frauen: 7
Männer: 31

Michael Maar: Leoparden im Tempel - Portraits großer Schriftsteller
Frauen: 1
Männer: 11

Sascha Michel u. a. Hg.: Mein Klassiker - Autoren erzählen vom Lesen
Frauen: 13
Männer: 23

Isolde Ohlmann: Lesen & Schreiben
Frauen: 30
Männer: 74 

Elisabeth Castonier: Stürmisch bis heiter

 Memoiren einer Außenseiterin

Buchinfo

Elisabeth Castonier, am 6. März 1894 in Dresden als Tochter des Malers Felix Borchardt geboren, wuchs als verwöhntes und behütetes Mädchen auf. Eine Großmutter war Engländerin, die andere Französin, der Großvater mütterlicherseits war Hofarchitekt des russischen Zaren. Gesellschaftlichen Glanz und die Bekanntschaft mit vielen Größen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg schildert die Autorin in ihren Lebenserinnerungen ebenso erregend wie die Boheme der zwanziger Jahre, ihrer eigenen literarischen Anfänge und Erfolge, ihre Ehe mit einem Sänger und die Jahre der Emigration, die sie über Wien und Italien nach England führten. Nach dem Krieg kehrte Elisabeth Castonier nach Deutschland zurück. Sie starb am 24. September 1975 in München.

Buchbeginn

Meine dreisprachigen Vorfahren

Meine englische Großmutter, Elizabeth, hatte gerade ihren fünfzehnten Geburtstag gefeiert, als mein russischer Großvater Alexander de Bosse, aus St. Petersburg bei Nachbarn in Sussex einen kurzen Urlaub verbrachte. Sie lernten sich auf einer Tea-Party kennen, bei der nach englischer Sitte Tische und Stühle im Garten auf einen Teppich gestellt wurden, um die Gäste vor dem feuchten Rasen zu schützen. 

Montag, 10. November 2025

Zofia Nałkowska: Medaillons

Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Marta Kijowska
Schöffling & Co., 2021
3895614645

Die polnische Schriftstellerin Zofia Nałkowska (10. November 1884 - 17. Dezember 1954) beschäftigte sich frühzeitig mit vom Sozialismus geprägten Literaturbewegungen. Ihre Werke waren vom Patriotismus sowie der Wiedererringung der Souveränität Polens am 11. November 1918 geprägt. In ihrem Heimatland gehörte sie immer zur literarischen Elite, doch im Ausland war sie weitgehend unbekannt. Mit Ausnahme der DDR-Verlage, die einige ihrer Werke mehrfach übersetzten.
1899 schrieb sie in ihr Tagebuch: „Der Mann kann ein erfülltes Leben führen, da in ihm ein Mann und ein Mensch zugleich lebt. (…) Für die Frau bleibt nur ein Bruchteil des Lebens übrig – sie muss entweder ein Mensch oder eine Frau sein.“


Buchinfo
 Medaillons, das sind acht Begegnungen mit Opfern und Handlangern des Nationalsozialismus: Eine Frau befreit sich mühsam aus dem fahrenden Viehwaggon, stolpert über die Gleise und wird auf der Flucht angeschossen. Wie im Traum nimmt sie wahr, dass Menschen um sie herum sich zögerlich fragen, ob sie ihr helfen oder sich lieber in Sicherheit bringen sollen. Eine andere, die für die Ausrottung der Juden Verständnis hat, weil sie deren Hass auf die Polen mehr als die Nazis fürchtet, hört beim Blumengießen auf dem Warschauer Friedhof, wie die verzweifelten Stimmen der im Ghetto Eingeschlossenen zu ihr dringen. Mitarbeiter eines Labors finden nichts dabei, dass ihr deutscher Vorgesetzter aus Menschenknochen Seife herstellt. Es sind Geschichten des Grauens, die eine Beobachterin in einer zugleich glasklaren und poetisch dichten Sprache einfängt. Sie selbst hält sich im Hintergrund und verzichtet auf jegliche Wertung, wodurch sie die geschilderten Verbrechen und Leiden umso intensiver für sich sprechen lässt. Zofia Nałkowskas 1946 erschienene, von Marta Kijowska neu übersetzte und mit einem Nachwort versehene Medaillons gelten als ein Meisterwerk der Miniaturprosa und einer der wichtigsten Texte der polnischen Kriegsliteratur. »Dieses Schicksal haben Menschen den Menschen bereitet«, lautet Nałkowskas Erkenntnis, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat. 

Buchbeginn
Professor Spanner
An jenem Morgen waren wir dort zum zweiten Mal. Es war ein klarer, kühler Maitag. Vom Meer her wehte ein frischer Wind; er rief etwas in Erinnerung, das Jahre zurücklag. Hinter den Bäumen der breiten asphaltierten Allee stand eine Mauer, dahinter erstreckte sich ein großer Innenhof. Wir wussten bereits, was wir zu sehen bekommen würden.
 

Samstag, 8. November 2025

Margaret Mitchell: Vom Winde verweht

Die US-amerikanische Schriftstellerin Margaret Mitchell (8. November 1900 - 16. August 1949) wuchs in einer der einflussreichsten Familien in Atlanta auf. Wie ihre Heldin Scarlett O'Hara war sie widerborstig, eigensinnig und rebellisch. Ihr erster Mann war ein Alkoholiker. Gegen den Willen ihrer Familie suchte sie sich einen Job und arbeitete beim Atlanta Journal. 1924 ließ sie sich scheiden und heiratete 1925 erneut.
"Vom Winde verweht" war das einzige Buch, das sie schrieb. Sie begann es, als sie 1926 wegen Verletzungen und Arthritis längere Zeit ans Bett gefesselt war. Zehn Jahre sollte die Fertigstellung dauern. 1937 wurde sie dafür mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Vom Winde verweht
Aus dem Amerikanischen von Martin Beheim-Schwarzbach
Ullstein
1. Auflage 2004
5. Auflage 2010

Buchinfo
Erzählt wird die Geschichte der Südstaatlerin Scarlett O'Hara, Tochter eines Plantagenbesitzers, die während des amerikanischen Bürgerkrieges (1861-65) und in den Wirren der Nachkriegszeit mit aller Kraft um die Erhaltung ihres Familienbesitzes kämpft. Zwischen ihr und dem skrupellosen Rhett Butler, der im Krieg reich wird, entwickelt sich eine große Liebe, die jedoch keine Erfüllung werden kann. Diese abenteuerlich-romantische Liebesgeschichte zur Zeit der Sezession wurde zum Klassiker unter den amerikanischen Bestsellern. Bereits im ersten Halbjahr nach ihrem Erscheinen im Jahre 1936 verkauften sich 500.000 Exemplare. Drei Jahre darauf verfügte die berühmte Verfilmung des Romans mit Vivien Leigh und Clark Gable.

Buchbeginn
Scarlett O'Hara war nicht eigentlich schön zu nennen. Wenn aber Männer in ihren Bann gerieten, wie jetzt die Zwillinge Tarleton, so wurden sie dessen meist nicht gewahr. Allzu unvermittelt zeichneten sich in ihrem Gesicht die zarten Züge ihrer Mutter, einer Aristokratin aus französischem Geblüt, neben den derben Linien ihres urwüchsigen irischen Vaters ab. Dieses Antlitz mit dem spitzen Kinn und den starken Kiefern machte stutzen. Zwischen den strahlenförmigen, schwarzen Wimpern prangte ein Paar blaßgrüner Augen ohne eine Spur von Braun.Die äußeren Winkel zogen sich ein klein wenig in die Höhe, und auch die dichten, schwarzen Brauen darüber verliefen in einer scharf nach oben gezogenen, schrägen Linie von jener magnolienweißen Haut, die in den Südstaaten so geschätzt und von den Frauen Georgias mit Häubchen, Schleiern und Handschuhen ängstlich vor der sängenden Hitze geschützt wird. 
 

Eleonore Holmgren: Vielleicht der schönste Sommer

 Deutsch von Annika Ernst
dtv, 2023

Buchinfo
Das Glück einer außergewöhnlichen Freundschaft

Adam, Anfang zwanzig und auf die schiefe Bahn geraten, sucht Zuflucht auf der Schäreninsel Lindö. Kurzerhand steigt er in ein vermeintlich leerstehendes Haus ein. Am nächsten Morgen trifft er dort die 86-jährige Britta, die den Sommer in ihrem Häuschen verbringt. Nach einem Kreuzverhör darf Adam bleiben. Die beiden ahnen nicht, dass ihnen ein magisch schöner Sommer bevorsteht...

Buchbeginn
Britta
Sie war ihrem Ziel so nah, dass sie schon glaubte, die vertrauten Geräusche und die Gerüche wahrzunehmen, die zu Lindö gehörten. All das, was sie glücklich machte. 


Ein sehr leises Buch. Zu Britta und Adam gehören noch Brittas langjährige Freundin Iris und ein paar andere Menschen. Manch einer würde sagen, es ist stinklangweilig, aber ich fand es so schön, wie die beiden alten Frauen dem jungen Mann etwas fürs Leben mitgeben.

Freitag, 31. Oktober 2025

Josephine Diebitsch Peary: Das Schneekind

Eine erlebte Geschichte mit Bildern nach dem Leben von Josephine Diebitsch Peary
Aus dem Englischen von Franziska Boas
Hermann & Friedrich Schaffstein, 1901

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Dies ist die Geschichte von Marie Ahnighito, Tochter von Josephine Diebitsch Peary, die in der Polarnacht zur Welt kam.
Wie Marie Ahnighito mit den Inuit-Kindern im Eis überwintert, wird in "Children of the Artic" erzählt.

Buchbeginn
Weit, weit von hier, Tausende von Kilometern weit, in dem weißen, kalten Norden, wo die großen Schiffe auf den Fang gehen nach den gewaltigen schwarzen Walfischen, da liegt ein wunderbares Land in Schnee und Eis, mit Gebirgen, Gletschern und Eisbergen. Seltsame, kleine, braune Menschen, die Eskimos, die sich in Tierhäute kleiden, wohnen dort in Häusern von Schnee.
Im Sommer geht in diesem wunderbaren Lande die Sonne niemals unter, sie scheint während der ganzen Zeit Tag und Nacht. Dann schmilzt der Schnee, und blaue, weiße und gelbe Blumen sprießen hervor. Und braune Renntiere mit sanften Augen gehen umher und weiden das kurze Gras ab.

Virginia Woolf: Zum Leuchtturm (1927)

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Kaum hatte Virginia Woolf im Oktober 1924 das Manuskript zu "Mrs Dalloway" abgeschlossen, da sah sie bereits den "Alten Mann" vor sich, den Mr Ramsay aus "Zum Leuchtturm", das Porträt ihres Vaters Sir Leslie Stephen. Im Januar 1927 war das Manuskript abgeschlossen. "Ich schreibe jetzt so schnell und leicht, wie ich nur je in meinem Leben geschrieben habe...", vermerkt sie in ihrem Tagebuch. Wie in "Mrs Dalloway" steht im Mittelpunkt dieses Romans eine Frau, die sehr schöne, von verschleierter Trauer erfüllte Mrs Ramsay, der Virginia Woolf Züge ihrer geliebten Mutter gibt. Mrs Ramsay hat die Begabung, Menschen, die sie umgeben - die Familie, die aus ihrem ichbezogenen Mann und acht Kindern besteht, sowie Sommergäste in einem abgeschiedenen Ferienhaus auf den Hebriden -, intuitiv zu verstehen und miteinander zu verbinden. Das Verhalten dieser Menschen mit- und gegeneinander, die kleinen Ereignisse, Erinnerungen, Visionen, Beobachtungen bilden im Spiegel des Bewußtseinsstroms die Handlung des Romans. Konsequent ist die Komposition in drei Teilen. Die im ersten Teil geplante, aber mißglückte Fahrt zum Leuchtturm, die zehn Jahre später im dritten Teil nachgeholt wird, bildet motivisch eine von vielen Klammern. Dieser Roman, den Leonard Woolf ein "philosophisches Gedicht" nannte, ist nach Meinung vieler Literaturkenner in der Virtuosität der Erzähltechnik ihr vollkommenster Roman.

Buchbeginn

"Doch, bestimmt, wenn es morgen schön ist", sagte Mrs Ramsay. "Dann mußt du aber schon ganz früh aus den Federn", setzte sie hinzu.
In ihrem Sohn lösten diese Worte eine ungeheure Freude aus, als stehe nun fest, daß die Unternehmung auf jeden Fall stattfinden und das Wunderwerk, auf das er sich seit Jahren und Jahren, so schien es, gefreut hatte, nach dem Dunkel nur einer Nacht noch und einem Tag Bootsfahrt in greifbare Nähe rücken würde.

Donnerstag, 30. Oktober 2025

Rose Macaulay: Ein unerhörtes Alter (1921)

Aus dem Englischen von Irma Wehrli
DuMont Buchverlag, 2020

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Neville Hilary feiert auf dem Landsitz im Kreise der Familie ihren 43. Geburtstag. In der Mitte ihres Lebens realisiert sie, dass sie als Mutter von ihren Kindern Gerda und Kay nicht mehr gebraucht wird und dass sie anders als ihr Mann Rodney keine erfüllende Karriere vorzuweisen hat. Das Medizinstudium hatte Neville mit Anfang zwanzig für Ehe und Kinder abgebrochen, doch nun beschließt sie, dass es höchste Zeit ist, einen gesunden Egoismus zu pflegen und vergangenen Ambitionen nachzustreben: Sie wird an die Universität zurückkehren und das Examen absolvieren.
Ihre 63-jährige Mutter, Mrs Hilary, fühlt sich unterdessen in ihrem Witwendasein derart unbeachtet, dass sie sich sogar der (von ihr zunächst argwöhnisch abgelehnten) Psychoanalyse zuwendet – mit dem Ziel, wenigstens beim Therapeuten endlich mal nur über sich selbst sprechen zu können. Und auch die anderen Frauen der Familie Hilary schlagen für ihre Zeit höchst ungewöhnliche Wege ein: Die unentschlossene Nan liebt zwar Barry, möchte aber vielleicht doch lieber ungebunden bleiben, die feministische Pamela findet ihr Glück in Arbeitsleben und Frauenwohngemeinschaft. Und dann wäre da noch die zwanzigjährige Gerda, jung und freigeistig, die alles kriegt, was sie will – und wenn es der Verehrer ihrer Tante Nan ist …
»Rose Macaulay ist eine der wenigen Autorinnen, von denen man sagen kann, dass sie unser Jahrhundert zierten.« Elizabeth Bowen


Buchbeginn

Nevilles Geburtstag
Neville erwachte an ihrem Geburtstagsmorgen um fünf (die Stunde der Natur, nicht die der Menschen) aus dem träumerischen Schlaf anbrechender Sommertage, erhitzt von der Last zweier Laken und einer Decke, geweckt vom vielfachen hellen Rufen einer Welt voller Vögel. Schrill und melodisch erklangen sie rund um das überwachsene Haus wie hundert Bäche, die nach der Schneeschmelze steile Runsen hinunterschießen. Und ungleich jedem Bach und auch jedem Vogel und überhaupt jedem Ding auf der Welt außer einer Kuckucksuhr, rief unbeirrt in den Ästen der großen Ulme auf der anderen Seite des silberglänzenden Rasens ein Kuckuck.

Montag, 27. Oktober 2025

Sylvia Plath: Die Glasglocke

(erschien 1963 unter dem Pseudonym „Victoria Lucas“)
Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Suhrkamp Taschenbuch 3676, 2005
978-3518456767

Buchinfo
Die Amerikanerin Sylvia Plath, "die beste, aufregendste und maßgeblich rücksichtsloseste Dichterin ihrer Generation" (John Updike), hat mit ihrem einzigen Roman, der im Jahr ihres Selbstmordes erschien, ein Jahrhundertbuch geschrieben, das auch heute nichts von seiner beklemmenden Faszination verloren hat.

"Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wußte, was ich in New York eigentlich wollte." Die Collegestudentin Esther Greenwood, von Preisen und Stipendien überhäuft, verbringt im "schwarzen Sommer" von 1953 einen Monat als Volontärin einer Modezeitschrift in New York. Schonungslos protokolliert sie ihre Existenzkrise.

Buchbeginn
Es war ein verrückter, schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektrischen Stuhl kamen und ich nicht wußte, was ich in New York eigentlich wollte. Bei dem Gedanken an Hinrichtungen wird mir immer ganz anders. Die Vorstellung, auf den elektrischen Stuhl zu kommen, macht mich krank, aber in den Zeitungen war von nichts anderem die Rede - glotzäugige Überschriften, die mich an jeder Straßenecke und an jedem muffigen, nach Erdnüssen riechenden U-Bahn-Schlund anstarrten. Es hatte nichts mit mir zu tun, und trotzdem ließ mich die Frage nicht los, wie es wäre, die Nerven entlang bei lebendigem Leib zu verbrennen.
Ich dachte, es muß das Schlimmste auf der Welt sein.
 

Samstag, 25. Oktober 2025

Marina Vlady: Eine Liebe zwischen zwei Welten – Mein Leben mit Wladimir Wyssozki

Heute möchte ich euch ein Buch vorstellen, das ich abgöttisch liebe, und dass ich wie einen Schatz hüten werde. Ich habe es jetzt das zweite Mal gelesen und musste einfach drauf los schreiben, um euch diese beiden Menschen nahezubringen.

„Wie der ganze Saal bin ich bis ins Mark erschüttert von der Gewalt, der Verzweiflung, der unerhörten Stimme des Schauspielers.“

So erging es Marina Vlady 1967, als sie Wladimir Wyssozki das erste Mal auf der Bühne sah. Nach der Aufführung treffen sich die beiden und er gesteht ihr, dass er sie schon sehr lange liebt. Und das, wo er verheiratet ist, Kinder hat, doch er weiß, das Marina mal seine Frau wird. Und sie ist beeindruckt von ihm. Seine Augen haben es ihr angetan. Und seine Verwegenheit bringt sie aus der Verfassung. Und so treffen sie sich wieder.

Marina erzählt hier ihr Leben mit Wladimir, und sie spricht ihn dabei direkt an. Als wenn sie dieses Buch nur für ihn geschrieben hätte. Eine schöne Idee, wie ich finde.

Als Liebespaar ist es für sie nicht leicht. Niemand hat eine eigene Wohnung. Die Hotelzimmer sind Ausländern oder zugereisten Sowjetbürgern vorbehalten. Und so müssen sie die wenigen guten Freunde bitten, ihnen ihre Wohnung zu überlassen, was aber auch als ganz selbstverständlich angesehen wird.

Marina versucht alles, um Wladimir besuchen zu können. Mal wird sie zu einem Filmfestival eingeladen, dann schafft sie es, einige Wochen für Dreharbeiten einzureisen. Und dank ihrer beider Bekanntheit und der Bewunderung, die Wladimir in allen Schichten der Bevölkerung genießt, klappt es immer wieder mal.

Bei einem ihrer Besuche erleidet Wladimir einen Zusammenbruch. Er ist Alkoholiker und hat Glück, dass Marina schnell reagiert hat und ihn in ein Krankenhaus gebracht hat. Nach sechzehn Stunden des qualvollen Wartens erfährt sie, dass ein Blutgefäß in seiner Gurgel geplatzt ist und er keinen Schluck Alkohol mehr trinken darf. In den Ärzten, die ihn behandelt haben, haben sie lebenslange Freunde gefunden.

Marina erlebt, was der Zweite Weltkrieg in dem Land angerichtet hat. In einem Dorf erzählt ihr ein altes Muttchen, was sie hätte in vielen Dörfern erfahren können. Neun Frauen zwischen 15 und 45 leben 1944 in diesem Dorf. Die Deutschen sind zwar auf dem Rückzug, aber all ihre Männer sind an der Front oder bei den Partisanen umgekommen. Als ein kleiner Trupp junger sowjetischer Soldaten durchs Dorf kommt, fragt die Verwegenste den jungen Hauptmann:

„Worum ich Sie bitten will, wird Sie schockieren. Versuchen Sie uns zu verstehen. Der Krieg hat uns alle Männer genommen. Damit das Leben weitergeht, brauchen wir Kinder. Schenkt uns Leben.“

In dieser Nacht, die Marina und Wladimir in diesem Dorf verbringen, entstehen die meisten Lieder seines Zyklus über den Krieg.

„Bei deinen Konzerten hören dir ordensgeschmückte Veteranen unter Tränen zu, die jungen Leute sind nachdenklich und ernst. Deine Lieder vollbringen mehr für den Frieden und zur Ehre des Andenkens der Toten als alle Filme, Dokumente, Monumente und offiziellen Reden zusammen.“

Das Zusammenleben mit Wladimir ist nicht einfach. Immer, wenn Marina ihn für die Arbeit verlassen muss, triftet er ab. Trifft sich mit vermeintlichen Freunden, trinkt bis zur Besinnungslosigkeit. Die kleine Gruppe von Ärzten stehen ihnen immer bei und wenn sie ihm wieder mal das Leben gerettet haben, beginnt Marinas Arbeit. Sie schließt sich zum Entzug mit ihm ein. Für Wladimir ist es stets ein böses Erwachen. Denn danach kommen die Erinnerungen an das, was er angestellt hat.

Im Dezember 1969 heiraten die beiden.

Und dann beginnt der „Ehealltag“. Marina muss weiterhin viel reisen, für die Arbeit. Damals mussten immer noch Visa ausgestellt werden. Und die waren zeitlich begrenzt. Sie überlegte, mit der Familie ganz nach Moskau zu ziehen, doch das machten ihre Söhne nicht mit. Ferien? Ja. Aber nicht dort leben. Wenn sie nicht da war, trank Wladimir, sodass sie oftmals ganz schnell wieder einreisen musste. Sie war glücklicherweise sehr beliebt in der Sowjetunion, Wladimir sowieso. So war für sie einiges leichter.

Aber sie wollte ihrem Mann auch Paris zeigen, ihr Leben, ihre Freunde. Erst nach sechs Jahren stellten sie einen Antrag für Wladimir. Bei sechs Freunden hat es schon geklappt. Und keiner von ihnen ist in Frankreich geblieben oder hat aufsehenerregende Erklärungen abgegeben.

Nach Wochen des bangen Wartens ist die Entscheidung gefallen. Der Reisepass wird ihnen sogar ins Haus geliefert. Wladimir kann es gar nicht glauben.

Als Künstler lebt Wladimir ein unglückliches Leben. Er war beim Volk – und das in jeder Schicht – beliebt, doch offiziell erfährt er als Künstler keine Anerkennung. Ganz im Gegenteil: Jede dritte Theateraufführung wird nicht genehmigt, er muss Konzerte in dem Moment abbrechen, in dem er auf die Bühne gehen will. Und dann wird auch noch eine Krankheit vorgeschoben. „Weder Rundfunk noch Fernsehen haben jemals eines deiner Lieder gesendet. Keine Zeitschrift, keine Zeitung hat eine Zeile von dir publiziert.“ Glücklicherweise gab es das Wunder der Technik, namentlich: Tonbandgerät. Während seiner Reisen im Land und später auch im Ausland ist er immer wieder verwundert, wo die Leute ihn überall hören. Bis zum Schluss hat er vergeblich um offizielle Anerkennung als Dichter gerungen.

„Von den vierundzwanzig Stunden des Tages, der für dich immer zu kurz ist, verbringst du im Schnitt drei oder vier am Schreibtisch. Vor allem nachts. Als wir nur ein einziges Zimmer haben, schlummere ich auf dem Bett daneben ein. Später, in unserer großen Wohnung, versuche ich auf dem Sofa deines Arbeitszimmers ein bißchen zu schlafen, während ich warte, bis du kommst, mir das gerade Geschriebene vorzulesen. Dieser einzigartige Augenblick in der Stille der Nacht, wenn du mir sanft über das Gesicht streichst, um mich zu wecken, um mir mit geröteten Augen und einer vom zu vielen Rauchen rauhen Stimme deinen neuen Text vorliest, ist einer der intensivsten Momente in unserem Leben. Es ist jedesmal ein tiefes Gefühl, eine innige Gemeinsamkeit, du schenkst mir das Kostbarste, was du besitzt, dein Talent…“

Marina berichtet weiter über Episoden aus ihrer beider Leben. Und dann ist es vollbracht: Wladimir ist das erste Mal in seinem Leben im Ausland, in Freiheit:

„Auf der polnischen Seite werden wir kaum kontrolliert, und sobald die Grenze durch eine Baumgruppe verdeckt ist, halten wir an. Du tollst herum wie ein Zicklein, schreist dir mit aller Kraft dein Glück aus dem Leibe, die ganze Gewalt deiner langen Geduld, deines Ungestüms, das durch diese endlich erlangte Freiheit verzehnfacht wird. Die Grenze deines Landes überschritten zu haben, das du niemals verlassen zu können glaubtest, zu wissen, daß wir die Welt sehen, so viele Schätze entdecken werden, das macht dich vor Überschwang fast verrückt, wir sind beide wie beschwipst.“

In Paris dann gibt Wladimir ein kleines Konzert in einem Theater und ist glücklich, dass ihm die Leute zuhören. Seine erste Schallplatte im Westen entsteht. Marina und Wladimir stehen gemeinsam auf der Bühne. Sie liest seine Texte auf Französisch vor und er spielt sich die Finger wund. Und dann steht er vor 200.000 Menschen auf der Bühne, die ihn auspfeifen, weil sie Rockgruppen erwartet haben. Doch er legt los und endet unter einem donnernden Applaus. „Ich hätte so lange draußen bleiben können, wie ich wollte, ich hab sie gekriegt!“ Bei seinen Glücksmomenten muss ich immer ganz tief Luft holen und ich bekomme feuchte Augen.

Und nun schließe ich schweren Herzens. Ich würde euch gerne weiter über die beiden wunderbaren Menschen berichten. Wie schon geschrieben, das Zusammenleben mit Wladimir war nicht leicht, vor allem wegen seiner Alkoholkrankheit. Und doch hat sie diesen Mann geliebt, respektiert, hat ihn für seine Kunst bewundert. Dieses Buch ist eine einzige wunderschöne Liebeserklärung an Wladimir Wyssozki, der leider viel zu früh gestorben ist.

Und mir fällt es so schwer, jetzt Schluss zu machen. Entschuldigt bitte den langen Text. Aber wenn mich ein Buch so richtig gepackt hat, dann kann ich nicht anders.

Mittwoch, 22. Oktober 2025

Natalie Jenner: Der Buchladen von Bloomsbury

Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn
aufbau Taschenbuch 2024

Liebe Leserinnen*,

ihr wundert euch vielleicht, dieses sehr aktuelle Buch hier zu sehen. Vielleicht denkt ihr: Och ne, noch ein Buch über Frauen und eine Buchhandlung. Ja, das war auch meine erste Befürchtung. 

Doch wie positiv bin ich überrascht worden. Es ist so eine tolle Geschichte und erinnert mich ein kleines bisschen an uns drei, die diesen Blog befüllen. Nicht von der Zeit her, denn die Geschichte spielt in den 1950er-Jahren, aber vom Thema her.

 

Der Buchladen Bloomsbury Books in London wurde mir beim Lesen immer heimischer. Als wenn er meine Stammbuchhandlung wäre. Dieses Gefühl hatte ich noch nie bei all den Büchern über Bücher, die ich bisher gelesen habe. Eine Buchhandlung mit einer angeschlossenen Abteilung für antiquarische Bücher. Ich weiß nicht, ob es das heute noch oft gibt. In einer meiner wenigen Buchhandlungen in Aurich gab es das mal, da habe ich oft rumgestöbert, da wir ja nicht mit einem Antiquariat gesegnet sind. Aber das ist schon lange her.

Bloomsbury Books gibt es schon seit Jahrzehnten und wird konservativ geführt. Bedeutet, dass die drei Frauen Evelyn "Evie" Stone, Vivien Lowry und Grace Perkins nichts zu sagen, geschweige denn zu entscheiden haben (es sind die 1950er Jahre). Das soll sich ändern, als der alte Geschäftsführer eines Tages zusammenbricht und Evie ihm quasi das Leben rettet. Er fällt für längere Zeit aus.

Alec McDonough, leitender Angestellter in der Romanabteilung soll den Laden schmeißen. Für Vivien ergibt sich so die Möglichkeit, sich als stellvertretende Leiterin eben dieser Abteilung auszutoben. Was ihr am wichtigsten ist, dass weibliche Autorinnen sichtbarer platziert werden. Und das neue weibliche Autorinnen überhaupt erst mal geordert werden, weil es fast keine gibt.

Grace ist die ältere der drei Frauen, sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihr Mann ist zu Hause, sodass sie diejenige ist, die das Geld nach Hause bringt. Statt sie zu unterstützen, lässt er nur seine schlechte Laune an ihr aus und will über alles, was sie tut, unterrichtet sein. Nur sehr langsam erkennt sie, dass die Ehe ihr nicht mehr gut tut und sie denkt über eigene Ziele nach:

"In diesem Moment jedoch, da sie im Spielzeugladen stand und ihre Jungen beobachtete - ohne ihren Vater, den sie kein bisschen vermissten -, erlaubte sich Grace eine kleine und gefährliche Ahnung dessen, was sie wirklich wollte. Und es war ganz und gar nicht das, was sie hatte."

Zu guter Letzt ist da noch Evie, meine liebste Protagonistin. Sie arbeitet in der antiquarischen Abteilung und soll dort die Bücher katalogisieren. Sie hat studiert, was ihr aber nichts nutzt. Die akademische Welt bleibt ihr verschlossen. Man spielt ihr übel mit.
Sie ist am kürzesten in der Buchhandlung, hat eigene Ziele. Vorrangig sucht sie ein vergessenes, wertvolles Buchmanuskript. Langfristig forscht Evie nach vergessenen, ignorierten und unterschätzten Schriftstellerinnen. Und sie möchte diese Autorinnen neu auflegen.

Spannend wird es, als Evie entlassen wird und die Frauen sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

Das Buch entstand während der Pandemie, also ist es nur gerecht, wenn es ein Happy End gibt.
Einen weiteren Roman von der Autorin habe ich mir auch schon besorgt: Teatime im Jane-Austen-Club

Buchinfo
Bloomsbury Books ist eine traditionsreiche Londoner Buchhandlung, deren Fortbestehen auf 51 unverrückbaren Regeln beruht. Doch als Grace, Vivian und Evie 1950 gemeinsam in dem Buchladen arbeiten, stellen die drei Frauen schon bald fest, dass sie die Regeln brechen müssen, wenn sie Veränderungen anstoßen wollen. Evie, die als eine der ersten Frauen in Cambridge studieren durfte, kämpft dafür, auch die Literatur von Autorinnen ins Sortiment aufzunehmen. Als sie in den  alten Beständen der Buchhandlung eine Erstausgabe eines Buches findet, das als verschollen gilt, fügt sie mit diesem Fund nicht nur der Literaturgeschichte ein neues Kapitel hinzu - die Entdeckung bietet den drei Frauen endlich die Chance, für ihre eigenen Ideale und Wünsche einzustehen...

Buchbeginn
Prolog
Cambridge, England
19. Dezember 1949
Mit dickem Wollmantel bekleidet saß Evie Stone in ihrem winzigen Einzimmerapartment. Sie wohnte am nördlichen Ende der Castle Street, von wo aus das College gerade noch fußläufig zu erreichen war. Allerdings war Evie keine Studentin mehr - ihre Tage an der Universität waren gezählt, und in den nächsten vierzig Minuten würde sich entscheiden, wie viele ihr noch blieben.

Zitat

"In diesem Moment jedoch, da sie im Spielzeugladen stand und ihre Jungen beobachtete - ohne ihren Vater, den sie kein bisschen vermissten -, erlaubte sich Grace eine kleine und gefährliche Ahnung dessen, was sie wirklich wollte. Und es war ganz und gar nicht das, was sie hatte."

 

Sonntag, 19. Oktober 2025

Helena Krez: Die Rolle der Frauen in der Herrenhuter Brüdergemeine...

...  unter der besonderen Berücksichtigung von Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf

Buchinfo

Studienarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Theologie - Historische Theologie, Kirchengeschichte, Theologisches Seminar Adelshofen, Sprache: Deutsch, Abstract: Konträr zu dem Verständnis einer Frau im 18. Jahrhundert in der Gesellschaft, heben sich das Ansehen und die Stellung der Frau in Herrenhut ab. In Herrnhut ist die Frau gleichwertig und gleichberechtigt, was auf Unverständnis der Gesellschaft stößt.

In dieser Arbeit werden folgende Punkte besprochen:


1 Der geschichtliche Kontext
1.1 Zeitepoche
1.2 Der kirchengeschichtliche Kontext 
1.3 Die Rolle der Frau im 18. Jahrhundert 
2 Die Herrenhuter Brüdergemeine
2.1 Die Anfänge und Entwicklung der Herrenhuter Brüdergemeine 
2.2 Innere Struktur und der Inhalt der Gemeinde in Herrenhut
2.3 Die Rolle der Frau in der Herrenhuter Brüdergemeine
3 Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf
3.1 Allgemeines
3.2 Jugendjahre
3.3 Verlobung und Ehe
3.3.1 mit N. L. von Zinzendorf
3.3.2 Lebensentwurf „Streiterehe“ 
3.3.3 Kinder 
3.4 Erdmuthes Aufgaben und Mitwirken an der Reich-Gottes-Arbeit in Herrenhut
3.5 Erdmuthes und Zinzendorfers Theologie
3.6 Schwierigkeiten in Erdmuthes Leben und ihr Umgang mit Leid
3.7 Die Bedeutung Erdmuthes für Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine
4 Anna Nitschmann
5 Herrenhuter Verständnis von der Rolle der Frau als Beitrag zur Kirchengeschichte 


Buchbeginn

Nach den Religionskriegen sowie den Inquisitionen der Kirche, werden die Menschen gegenüber dem Glauben skeptisch und/oder lehnen den Glauben ganz ab. Somit distanzieren sich die Wissenschaft, die Politik und das Geistesleben vom Christentum und der Kirche.

 GRIN Verlag
2. Auflage 2011 
20 Seiten

ISBN-10: 3640951387
ISBN.13: 978-3640951383


Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf - die Bücher

  Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf: Geistliche Lieder (1735)

Über Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf

Erika Geiger: Erdmuth Dorothea Gräfin von Zinzendorf (2000, 2009)
Helena Krez: Die Rolle der Frauen in der Herrenhuter Brüdergemeinde unter der besonderen Berücksichtigung von Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf
Aini Teufel: Eine Gräfin auf Pilgerschaft - Erdmuth Dorothea von Zinzendorf in ihren Reisetagebüchern (2014)

Geistliche Lieder



Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf: Geistliche Lieder

 

Buchinfo

Erstdrucke in: Christliches Gesang-Buch, der Evangelischen Brüder-Gemeinen, Herrnhut (Brüdergemeine) 1735; und ebd., 3. revidierte Auflage, Herrnhut (Brüdergemeine) 1741.

Vollständige Neuausgabe mit einer Biographie der Autorin.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2015.

Textgrundlage ist die Ausgabe:
Christliches Gesang-Buch, der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735 zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt. Zu finden in obbesagten Gemeinen, 1741.

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe als Marginalie zeilengenau mitgeführt.

Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage unter Verwendung des Bildes: Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf, Gemälde, nicht datiert.

Gesetzt aus Minion Pro, 11 pt. 

Berlin: Contumax GmbH & Co. KG
2010 (1735)
84 Seiten

ISBN-10: 3843097941
ISBN-13: 978-3843063890 

 

Aini Teufel: Eine Gräfin auf Pilgerschaft - Erdmuth Dorothea von Zinzendorf in ihren Reisetagebüchern

 

Buchinfo

 "Fast ein Jahrhundert lang hat sich niemand mehr so intensiv mit Schriftzeugnissen der Erdmuth Dorothea Gräfin von Zinzendorf auseinandergesetzt wie Aini Teufel. Um ein lebendiges Bild der „Gräfin auf Pilgerschaft“ zeichnen zu können, waren tiefgehende Quellenstudien nötig. Aini Teufel begnügte sich bei der Recherche nicht mit den Arbeiten vorhergehender Autoren, wenngleich sie ihre Erfahrungen nutzte. Reisetagebücher aus dem 18. Jahrhundert mussten gelesen und transkribiert werden, um den Erlebnissen und Gedanken Erdmuth Dorotheas näher zu kommen. Dieser anstrengenden wie auch ergreifenden Mühe hat sich die Autorin unterzogen. Im Mittelpunkt des vorliegenden Buches stehen die Reisen der Erdmuth Dorothea von Zinzendorf. Sie unternahm sie im Auftrag der Herrnhuter Brüdergemeine, als deren Begründer ihr Ehemann Nikolaus Ludwig gilt. Was sie erlebte, hielt sie in Tagebüchern, sogenannten Reisediarien, fest. Dazu zählen nicht nur ihre Reisestationen – Orte, die sie aufsuchte, Menschen, denen sie begegnete. Vielmehr berichtet sie dem aufmerksamen Leser über Ängste und Zweifel, aber auch Freude und Glück, Heimweh und Sehnsucht nach ihren Kindern, ihr Vertrauen auf den richtigen Weg, den der HERR ihr weisen sollte, die Hoffnung, ihre Familie bei ihrer Rückkehr wohlbehalten vorzufinden. Erdmuth Dorothea von Zinzendorf unternahm diese Reisen nicht aus eigenem Antrieb. Sie sah sich als Dienerin ihres Heilandes und der Gemeinschaft, der sie angehörte. Sie wurde mit Aufträgen entsandt, welche oft den Männern nicht gelingen wollten. Sie vermittelte, half, unterstützte. Sie traf auf Gleichgesinnte und Widersacher, Freunde und Feinde eines pietistischen Herz- und Tatchristentums Herrnhuter Prägung. Der Autorin gelingt ein eindrucksvolles Portrait einer besonderen Frau. Einfühlsam spiegelt sie die Gedanken- und Gefühlswelt der Erdmuth Dorothea von Zinzendorf. Sie lässt sich dabei einerseits von den Worten Erdmuth Dorotheas leiten, andererseits vertraut sie ihrer eigenen Erfahrung und Menschenkenntnis. Dadurch eröffnet die Autorin den Kosmos einer Frau im 18. Jahrhundert auf eine ganz eigene und weibliche Weise." (Verlagsinformation) 

 KWB Verlag, Dresden (Kultur Wissen Bilder)
2014
296 Seiten
Biografie
Geschichte 1736 - 1743, Reisen (1736 - 1743

ISBN-10: 3981414977
ISBN-13: 978-3981414974 

Erika Geiger: Erdmuth Dorothea Gräfin von Zinzendorf - die "Hausmutter" der Herrnhuter Brüdergemeine


Holzgerlingen Hänssler
2000
133 Seiten
Biografie
Christliche Religion, Geschichte und Historische Hilfswissenschaften , Sozialgeschichte 

ISBN-10: ‎ 3775135928
ISBN-13: ‎ 978-3775135924

 

 

 

 

  

 

 

Buchinfo

Hausmutter von Herrnhut. Ehefrau des berühmten Grafen. In ihr hatte Nikolaus von Zinzendorf eine tatkräftige Mitarbeiterin an seiner Seite. Während seiner Verbannung aus Sachsen war sie außerdem noch Ortsherrin in Herrnhut. Zinzendorf nannte sie „Eine Fürstin Gottes unter uns“. Ihr tiefer Glaube drückt sich in den Liedern aus, die sie schrieb. Die dritte Auflage der bebilderten Biografie.
 

Holzgerlingen: SCM Hänssler
3. Auflage 2009 
144 Seiten
Biografie
Theologie, Christentum

ISBN-10: ‎ 3775148256
ISBN-13: ‎ 978-3775148252 


Samstag, 18. Oktober 2025

Vicki Baum: Tanzpause

Leseprobe

Und nachdem Herr Mönkeberg eine Zigarre in den Mundwinkel gehängt hatte, wies er auf alle Punkte hin. Doktor Delius hatte trotz juristisch klar zutage liegender Tatsache der böswilligen Verlassung keine Scheidungsklage eingereicht und war auch nicht willens, eine solche einzureichen. Auch Frau Delius hatte überraschenderweise noch nicht den Wunsch nach Scheidung ausgesprochen. 
 

Vicki Baum: Frühe Schatten - Das Ende einer Kindheit

Buchinfo

Martha ist ein sensibles Kind, das in den schützenden Armen ihrer Mutter Trost sucht – doch dieser Schutz bröckelt. Während sie an Fieber und Schmerzen leidet, entfalten sich um sie herum die komplizierten Dynamiken einer zerrissenen Familie. In dieser isolierten Welt aus Träumen, Fantasien und kindlicher Einsamkeit beginnt Martha, die Bruchlinien ihrer Kindheit zu erkennen. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt Vicki Baum in diesem Roman von den leisen Tragödien des Erwachsenwerdens. „Frühe Schatten“ ist eine bewegende Geschichte über das Ende einer Kindheit.

Buchbeginn

Die kleine Martha hatte Halsweh gekriegt und durfte in Mamas großem breiten Bett liegen; lang ausgestreckt lag sie da, den Rücken wohlig in die guten, weichen Federkissen gedrückt, und unter den langen gesenkten Wimpern warf sie verächtliche Blicke auf ihr mageres Gitterbettchen, das schmal und bescheiden, das harte flache Roßhaarkissen unter einer Pikeedecke versteckend, sich gleichsam frierend an die Wand lehnte. 

Sonntag, 12. Oktober 2025

Agnes Smedley

Wikipedia, gemeinfrei
Geschrieben von Sabine Neuhauß
 

Agnes Smedley wurde 1892 in eine arme, von Arbeitslosigkeit und Wanderarbeit geprägte
Bergarbeiterfamilie in Osgood, Missouri, geboren. Der Vater Charles Smedley war Bergarbeiter und oft arbeitslos; die Mutter Sara Smedley kämpfte als Wäscherin um das tägliche Überleben der Kinder. Mit 14 Jahren musste sie eine Stelle als Haushaltshilfe annehmen, um die Mutter und die Geschwister zu unterstützen. Bereits zwei Jahre später bestand sie die Prüfung als Lehrerin in New Mexico und arbeitete in Terico. Bald musste sie zur Familie zurückkehren, weil die Mutter bereits im Alter von 38 Jahren starb und sie sich um ihre vier Geschwister kümmern musste.

Im September 1911 wurde sie „special student“ an der Tempe Normal School (heute Arizona State University), wo sie sich durch ihr journalistisches Talent und politischen Mut  auszeichnete – unter anderem wurde sie Redakteurin der Studentenzeitung. Dort traf sie Thorberg Brundin und ihren Bruder Ernest. Beide waren Mitglieder der Sozialistischen Partei Amerikas und brachten Agnes die sozialistischen Ideen näher. Sie luden Agnes ein, mit ihnen nach San Francisco zu gehen, und 1912 heiratete sie Ernest Brundin. Jedoch war die traditionelle Ehe für Agnes nicht das geeignete Lebensmodell. Sie hatte in ihrer Kindheit zu viele Frauen erlebt, die unter der Last vieler Schwangerschaften oder illegalen Abtreibungen schwer gelitten hatten, die nicht wussten, wie sie die Kinder ernähren sollten – und die sehr weit entfernt waren von einem selbstbestimmten Leben. Auf keinen Fall wollte sie durch Kinder am Studieren und Schreiben gehindert werden. Die Ehe wurde 1916 geschieden.

Im selben Jahr trat Agnes Smedley in die Socialist Party of America ein, 1917 zog sie nach New York.
Dort arbeitete sie im Umfeld der Geburtenkontrollbewegung mit Margaret Sanger zusammen und schrieb für die Zeitschrift Birth Control Review. Darüber hinaus  engagierte sie sich in der Unterstützung der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Im März 1918 wurde sie  entsprechend dem Espionage Act von dem U.S. Naval Intelligence Bureau festgenommen. Die indische Unabhängigkeitsbewegung wurde im 1. Weltkrieg als anti-britisch vom Deutschen Kaiserreich unterstützt. Agnes verbrachte zwei Monate im Gefängnis, im  November 1919 wurde die Anklage fallengelassen.

Von 1919 bis 1928 lebte Agnes Smedley in Berlin, obwohl sie eigentlich in die Sowjetunion und nach Indien wollte. Auch dort bewegte sie sich im Umfeld indischer Revolutionäre und lernte Virendranath Chattopadhyaya kennen. Sie lebten zusammen, sie bezeichnete sich als seine Frau und benutzte seinen Namen – aber sie heiratete ihn nicht. 1925 verließ sie ihn. Dann hatte sie zeitweise eine Beziehung mit einem indischen Studenten von der Oxford University, Barkat Ali Mirza, der sich 1926 in Berlin aufhielt. Er wollte sie religiös-islamisch heiraten, aber sie lehnte dies ab.
In Berlin unterrichtete Agnes Englisch, bildete sich in Asienwissenschaften fort und  engagierte sich für Kliniken für Familienplanung. Für die Zeitschriften „The Nation“ und „New Masses“ berichtete sie über die Weimarer Republik. Ein kurzer Aufenthalt in der Sowjetunion enttäuschte sie hinsichtlich der dortigen Verhältnisse.

In dieser Zeit schrieb sie ihren autobiografisch inspirierten Roman „Daughter of Earth“ (1929), der ihre Herkunft und ihr Erwachsenwerden dramatisierte. Der Roman wird als klassisches Werk proletarischer und feministischer Literatur bezeichnet.

1928 reiste sie als Sonderkorrespondentin für die Frankfurter Zeitung und den Manchester Guardian nach Shanghai. Ab 1930 hatte sie eine Beziehung mit dem Spion Richard Sorge, die sie als „kameradschaftlich“ bezeichnete. Sie unterstützte ihn. Unklar ist, inwieweit sie an seiner Spionagetätigkeit teilhatte. Agnes Smedley bestritt bis zu ihrem Tod, Spionin gewesen zu sein. Sie definierte sich als Revolutionärin, Antifaschistin und Internationalistin, die im Kampf gegen Imperialismus und für soziale Gerechtigkeit Partei ergriff – vor allem für China.

Die meisten Historiker:innen gehen heute davon aus, dass sie zumindest in den 1930er Jahren Kontakte zum sowjetischen Nachrichtendienst GRU hatte. Wahrscheinlich spielte sie eine Nebenrolle im Netzwerk von Richard Sorge, z. B. indem sie ihn mit vielen für ihn  interessanten Leuten bekannt machte und vielleicht auch Informationen weitergab. Sie war vermutlich nicht im engeren Sinn eine professionelle Spionin, sondern eine politisch motivierte Aktivistin, deren Loyalität gegenüber revolutionären Bewegungen sie in die Nähe sowjetischer Geheimdienststrukturen brachte.

In China freundete sie sich mit Lu Xun an (er gilt in der Volksrepublik China als Begründer der modernen Literatur), berichtete für internationale Zeitungen und publizierte 1933 „Chinese Destinies“ und 1934 „China's Red Army Marches“, in denen sie die kommunistische Revolution und Armee porträtierte.

Schon 1936 berichtete sie über den Xi’an-Zwischenfall, und 1937 reiste sie nach Yan’an zu Mao Zedong – als eine der ersten westlichen Journalisten überhaupt, die im Zentrum der Revolution tätig waren. Während des Zweiten Sino-Japanischen Krieges begleitete sie die  Achte Route-Armee, schrieb „China Fights Back“ (1938) und personalisierte das  Kriegsgeschehen in ergreifenden Reportagen.

In dieser Zeit hatte Agnes Smedley enge Freundschaften und möglicherweise intime Bindungen mit führenden Persönlichkeiten der kommunistischen Bewegung. Überliefert sind etwa sehr persönliche Beziehungen zu Zhu De, dem späteren  Oberkommandierenden der Roten Armee, und auch eine Nähe zu dem Arzt Ma Haide (Shafick George Hatem). Offiziell blieb sie unverheiratet und kinderlos – auch weil sie Freiheit und Unabhängigkeit höher schätzte als bürgerliche Sicherheit. Allerdings litt sie auch unter gesundheitlichen Problemen, sie kämpfte immer wieder mit Depressionen und einem tiefen Gefühl der Einsamkeit. Zeitgenossen berichten, dass sie zwar eine charismatische, witzige und mutige Frau war, gleichzeitig aber ruhelos, verletzlich und oft zerrissen zwischen Leidenschaft und  Enttäuschung.

1941 kehrte sie in die USA zurück, veröffentlichte 1943 ihr bedeutendes Werk „Battle Hymn of China“, eine Mischung aus Biografie, Kriegsreportage und Reflexion.

In den 1940er Jahren lebte sie in Yaddo, einer Schriftstellerkolonie im Norden des Bundesstaates New York, und zeitweise mit Edgar Snow zusammen.
Im Jahr 1947 wurde sie von General Douglas MacArthur der Spionage beschuldigt und vom FBI überwacht. Den Vorwurf der Spionage für die Sowjetunion konnte sie zwar erfolgreich juristisch zurückweisen, jedoch schadete dies dauerhaft ihrem öffentlichen Ruf.

Unter dem wachsenden Druck verließ Agnes im Herbst 1949 die Vereinigten Staaten und ging ins Exil nach England. Dort verfasste sie unvollendet die Biografie „The Great Road“ über Zhu De, die 1956 posthum erschien. Ihre Gesundheit war zu dieser Zeit bereits angeschlagen: Sie litt an einem chronischen Magengeschwür, unter Unterernährung und Erschöpfung nach Jahren entbehrungsreicher Arbeit in China. Im Frühjahr 1950 verschlimmerten sich ihre Beschwerden. Ärzte stellten ein schweres Magengeschwür fest, Komplikationen nach einer Magengeschwür-Operation führten zu akutem Kreislaufversagen.

Daran verstarb sie am 6. Mai 1950 in London, ihre Asche wurde später auf dem Babaoshan-Revolutionsfriedhof in Peking beigesetzt – als Zeichen ihrer Verbundenheit mit der  chinesischen Revolution. Auf ihrem Grabstein steht in Chinesisch: „Freundin des chinesischen Volkes.“

In Dresden und Chemnitz wurden Straßen nach ihr benannt.

Quellen

https://de.wikipedia.org/wiki/Agnes_Smedley
https://german.cri.cn/china/china_heute/3255/20210527/665792.html
https://www.reddit.com/r/Kommunismus/comments/1ikd169/agnes_smedley_18921950_kom
munistin_der/

https://www.stadtwikidd.de/wiki/Agnes-Smedley-Stra%C3%9Fe
https://www.encyclopedia.com/women/encyclopedias-almanacs-transcripts-andmaps/
smedley-agnes-1892-1950

https://spartacus-educational.com/USAsmedleyA.htm
https://arsfemina.de/buch/mackinnon-stephen-r/agnes-smedley
https://spartacus-educational.com/USAsmedleyA.htm 


Bücher 

Eva Lessing

Am 8. Oktober 1776 gaben sich eine Frau und ein Mann in Jork bei Hamburg das Jawort. Die kluge Seidenhändlerin und der Dichter. Passten sie zusammen? Auf den ersten Blick nicht. Sie war die Witwe eines Hamburger Seidenhändlers und eine tüchtige Kauffrau mit vier Kindern (eine Tochter und drei Söhne) - Eva König. Er sollte Pfarrer werden. Doch er wurde Schriftsteller und ist jetzt herzoglicher Bibliothekar und Hofrat - Gotthold Ephraim Lessing. Die jüngsten sind sie beide nicht mehr: er 47, sie sieben Jahre jünger.

Ist diese Hochzeit vernünftig? Wohl nicht. Wenn sie vernünftig heiraten wollte, sollte sie sich besser einen strebsamen, tüchtigen, gebildeten Bürger suchen. Doch sie liebt ihren Lessing. Und sie hat Jahre darauf gewartet, ihn endlich heiraten zu können.

Sie passen wohl doch ganz gut zueinander. Doch viel Zeit, ihre Ehe zu genießen, sollen sie nicht haben.

Petra Oelker hat anhand von Briefen, Dokumenten und genauen Recherchen eine der größten Liebesgeschichten der deutschen Literaturgeschichte nachgezeichnet.

Und so begann sie:

Eva Katharina wurde am 2. März 1736 in der Heidelberger Judengasse geboren. Vater und Mutter, eine Schwester und drei Brüder hofften, dass sie gesund bliebe. Einige Kinder waren in der Familie schon gestorben.

Gut 100 Jahre später erhielt die Judengasse einen anderen Namen, weil sich die Hausvermieter beschwerten, keine Wohnungen mehr an Studenten vermieten zu können.

Ganz anders erging es da Gotthold Ephraim Lessing. Er wurde 1729 im sächsischen Kamenz geboren. Der Vater war lutherischer Prediger und Archidiakon an der Marienkirche. Einige Vorfahren des Vaters waren Handwerker, doch zumeist waren sie Pastoren, Ratsherren, sogar Bürgermeister. Und sie hatten alle studiert.

Gotthold hatte einen überwachen Geist. Auch er wurde zuerst zu Hause unterrichtet. Mit acht Jahren kam er an die Lateinschule in Kamenz. Doch diese Schule konnte ihm schon bald nicht mehr genug an Wissen bieten.

Auf Bitten des Vaters beim sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. konnte Gotthold dann die traditionsreiche Fürstenschule St. Afra in Meißen besuchen. Dort eröffnete sich ihm eine ganz andere Welt.

Petra Oelker hat genau recherchiert. Doch nicht für alles gibt es Fakten. Für das, was nicht hundertprozentig belegt ist, zeigt sie uns verschiedene Möglichkeiten auf, wie es gewesen sein könnte.

Auch wie sich Engelbert König und Eva Katharina Hahn kennenlernten, ist nicht überliefert. War es zufällig und Liebe auf den ersten Blick? Oder war es, wie damals üblich, doch eher eine geplante Ehe? Petra Oelker spielt hier einige Möglichkeiten durch. Dabei erfahren wir auch einiges darüber, wer in der Stadt Geschäfte machen durfte und sich auch in die politischen Belange einmischen durfte.

Engelbert und Eva lebten nun in Hamburg. Was für ein Unterschied zu dem kleinen Heidelberg. Alles Negative dieser Zeit - üble Gerüche, Laster, Verbrechen und Pestilenz - vervielfachten sich hier. Aber es gab auch mehr Möglichkeiten, die verbleibende freie Zeit zu verbringen:

"Eva las gerne, sie und ihr Mann gaben sogar Geld für Bücher aus. (Später, als sie wieder einmal ihren Haushalt auflösen und den restlichen Besitz in eine andere Stadt expedieren musste, waren auch große Bücherkisten dabei. Eine solche Menge an Büchern, schrieb ihr zukünftiger zweiter Ehemann, habe er ihr nicht zugetraut.) Nun konnte sie Bücher auch ausleihen. Nicht nur von ihren Freundinnen und Freunden, die Bibliothek der Commerzdeputation war mit 50.000 Bänden eine der größten in Europa und nur einen Katzensprung entfernt; sie konnte sie sehen, wenn sie sich aus einem Fenster ihrer vorderen Zimmer beugte. Auch die schon beachtliche, leider ziemlich vernachlässigte Bibliothek der städtischen Lateinschule Johanneum und des Akademischen Gymnasiums stand den Bürgern und Bürgerinnen der Stadt offen. Romane fand sie in beiden kaum, deren Lektüre, zum Beispiel das gerade auf Deutsch erschienene Melodram 'Manon Lescaut' von Abbé Prévost, kamen in Mode, galten jedoch bei den meisten ernsthaften Menschen noch als leichtfertige Zeitverschwendung."

Zu der Zeit, als das frisch vermählte Paar in Hamburg eintraf, befand sich dort auch schon Gotthold Ephraim Lessing. Er war 27 Jahre alt, finanziell immer am Limit, doch bei lesenden Menschen war er schon berühmt.

Mit 25 Jahren war Eva sieben Jahre verheiratet und hat in dieser Zeit sieben Kinder geboren. Nur drei von ihnen überlebten. In den nächsten zwölf Jahren würde sie weiter vier Kinder bekommen, von denen nur drei erwachsen wurden.

Man sagt immer, früher erging es den Gebärenden besser. Sie waren mehr gewohnt als unsereins. Doch ganz im Gegenteil: Gute Hebammen waren rar gesät. Ebenso gute Ärzte. Oft wurde es mit der Hygiene bei der Geburt nicht so genau genommen.

Dazu kam, dass die Körper der werdenden Mütter geschwächt waren. Egal, aus welcher Gesellschaftsschicht sie kamen. Die, die Geld hatten, trugen enge Korsetts, wodurch ihre Brustkörbe deformiert und ihr Lungenvolumen reduziert waren.

Arme Frauen konnten sich zwar keine Korsetts leisten, aber auch keine gesunden Lebensmittel.

Ihr fragt euch sicher, wann Eva nun ihren Lessing kennenlernt. Das dauert noch ein Weilchen. Vorher erfahren wir von Petra Oelker noch einiges Geschichtliches. Was für einen Freundeskreis hatte das Ehepaar König? Nahmen Sie an Teetischen teil? Welche Zeitung lasen sie? Auch hier weiß Petra Oelker nichts Genaues, zeigt uns aber, wie es hätte sein können.


Quelle und Literatur

Petra Oelker: Das glücklichste Jahr, Rowohlt Taschenbuch, 2015
 

Mary Anning

Mary Anning ließ ihren Hund an den Fundstellen zurück, während sie Hilfe für den Abtransport der Fossilien holte

 

 Mary Anning wurde am 21. Mai 1799 in dem an der südlichen englischen Küste gelegenen Dorf Lyme Regis in Dorset geboren. Sie gehörte zu den ersten professionellen Sammlerinnen von Fossilien und wird damit als eine der ersten Paläontologinnen betrachtet.

1800 schlug in ihrem Dorf ein Blitz ein, der vier Frauen traf. Die kleine Mary überlebte als einzige.

Marys Vater Richard war Tischler von Beruf, der sein Einkommen mit dem Verkauf von Fossilien aufbesserte. Da die Stücke bei den Touristen sehr begehrt waren, half sie ihm schon als Kind beim Sammeln an den Klippen in der Nähe von Lyme Regis. 

Der Vater starb 1810. Mary und ihr Bruder Joseph suchten nun in großem Stile nach Fossilien, mit deren Verkauf sie das Familieneinkommen aufbesserten.

Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war das Sammeln von Fossilien eher ein Hobby, ähnlich dem Briefmarkensammeln. Erst allmählich erkannte man die Bedeutung von Fossilien für die Geologie und Biologie. Mary Anning lernte auch bald Geologen und Biologen ihrer Zeit kennen.

Begonnen hat alles kurz nach dem Tod ihres Vaters mit der Entdeckung des Skeletts eines Ichthyosaurus. Ein Jahr zuvor hatte ihr Bruder einen Schädel entdeckt, der aussah wie der eines großen Krokodils. Als ein Sturm Teile der Klippe wegriss, fand Mary den Rest des Körpers. Bis zu diesem Zeitpunkt war dies das erste komplette Skelett eines Ichthyosaurus, das man gefunden hatte. Es gab zwar schon Funde in Wales, die man anhand von Fragmenten schon im Jahre 1699 beschrieben hatte. Der wichtige Fund eines kompletten Skeletts fand jedoch Eingang in die Transactions of the Royal Society. Zu diesem Zeitpunkt war Mary Anning erst 12 Jahre alt.

Thomas Birch, ein wohlhabender Fossiliensammler, wurde auf sie aufmerksam. Er sah, in welcher Armut Mary mit ihrer Familie lebte, verkaufte seine eigene Fossiliensammlung und überließ der Familie die 400 Britische Pfund. Dieses Geld hielt Mary ein wenig den Rücken frei, noch dazu, wo sie die Hilfe des Bruders verlor, der als Polsterer Arbeit fand. Sie konnte weiter auf Fossiliensuche gehen und machte bedeutende Funde an den Klippen bei Lyme Regis.
Diese Gegend ist heute eine der berühmtesten Fundstellen für Saurierfossilien weltweit. Die ältesten Schichten der Küste stammen aus der Trias und können auf ein Alter von ca. 250 Millionen Jahren datiert werden, die jüngsten Schichten stammen aus dem Ende der Kreidezeit – somit decken sie einen Großteil des Erdmittelalters, einer von Sauriern dominierten Erdepoche, ab. Sie wird allgemein Jurassic Coast genannt und gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO.

1821 fand sie das Skelett eines Plesiosaurus dolichodeirus, der erste, der von dieser Gattung gefunden wurde und der in seiner Qualität bis heute nicht übertroffen wurde. Der Paläontologe und Geologe William Conybeare hat ihn wissenschaftlich beschrieben. Sieben Jahre später,1828, fand sie als dritten großen Fund einen Flugsaurier, von William Buckland 1829 als Pterodactylus macronyx beschrieben (Richard Owen stellte die Art später in die neue Gattung Dimorphodon), der erste Fund außerhalb Deutschlands (Gideon Mantell hielt seine bereits 1827 beschriebenen Flugsaurierfossilien für die Reste eines Vogels).


 Das 1830 von Henry Thomas de la Bèche gemalte Aquarell Duria Antiquior („Vorzeitliches Dorset“) ist der früheste Versuch einer Rekonstruktion von ausgestorbenen Lebewesen in ihrer Umwelt. Der an seinem langen Hals erkennbare Plesiosaurus, der Ichthyosaurus sowie die Flugsaurier darüber gehen auf Annings Funde zurück. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von Kopien dieses Bildes unterstützte de la Bèche Mary Anning finanziell.


Ihre Funde waren wichtige Belege für das Aussterben von Tierarten. Zu ihrer Zeit galt die allgemeine Annahme, dass Tierarten nicht aussterben. Das hätte ja bedeutet, dass Gott etwas falsch gemacht hat. Jeder merkwürdige Fund wurde als ein Tier erklärt, das noch irgendwo in einem unentdeckten Teil der Erde lebe. Die bizarre Natur der Fossilien, die Mary Anning fand, unterlief dieses Argument und bereitete den Weg für das Verständnis des Lebens in früheren geologischen Zeitaltern.

Mary Annings Leistung bestand nicht nur in ihrer außergewöhnlichen Begabung, Fossilien aufzufinden, sondern auch in der Sorgfalt und Geduld, mit der sie diese ausgrub. Die Ausgrabung des Plesiosaurus dauerte zehn Jahre und sie arbeitete ohne Unterstützung von außen mit einfachstem Werkzeug. Sie hatte keine wissenschaftliche Ausbildung, war aber in der Lage, ihre Funde kompetent zu zeichnen und sie treffend zu beschreiben.
Henry Thomas de la Beche malte 1830 ein Aquarell von Duria Antiquior („Vorzeitliches Dorset“). Es ist der früheste Versuch einer Rekonstruktion von ausgestorbenen Lebewesen in ihrer Umwelt, die auf Mary Annings Funde zurückgehen. Mit dem Erlös aus dem Verkauf von Kopien dieses Bildes unterstützte de la Beche Mary Anning finanziell.

Mary Annings Lebensinhalt bestand aus der Suche nach Fossilien. Sie trug mit ihren Funden wesentlich zur Entwicklung der frühen Paläontologie bei. Für ihre Leistungen erhielt sie als Enddreißigerin eine jährliche Pension der British Association for the Advancement of Science.

Mary Anning starb am 9. März 1847 im Alter von 47 Jahren an Brustkrebs. Einige Monate zuvor war sie zum Ehrenmitglied der Geological Society of London ernannt worden, in der Frauen eine normale Mitgliedschaft nicht gestattet war.
Nach ihrem Tod geriet sie in Vergessenheit, wurde in den letzten Jahrzehnten jedoch als eine der wichtigsten und außergewöhnlichsten Figuren der frühen Paläontologie wiederentdeckt.


Quelle und Literatur

Tracy Chevalier: Zwei bemerkenswerte Frauen, Knaus Verlag München 2010 (Verfilmung 2020 mit Kate Winslet)
Wikipedia

Freitag, 10. Oktober 2025

Anna Stepanowna Politkowskaja

„Wenn ich getötet werde, sucht den Mörder im Kreml“

Wer möchte diesem Zitat widersprechen? Es ist doch immer wieder dasselbe Muster: Systemkritische Menschen werden verhaften, eingesperrt, umgebracht. Ein Verdächtiger wird nie gefunden, es gibt keine Anklage, von einer Verurteilung ganz zu schweigen. Anna Politkowskaja war die 13. Journalistin, die unter Putins Amt ums Leben kam.

Anna Politkowskaja wurde am 30. August 1958 in New York geboren. Als russisch-amerikanische Reporterin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin bekannt wurde sie durch Reportagen und Bücher über den Krieg in Tschetschenien, über Korruption im russischen Verteidigungsministerium und dem Oberkommando der Streitkräfte in Tschetschenien.

1978 heiratete sie Alexander Politkowski, schloss zwei Jahre später das Journalismus-Studium an der Moskauer Lomonossow-Universität ab und arbeitete danach bis 1993 bei verschiedenen Zeitungen und Verlagen. Von 1994-99 war sie leitende Redakteurin, Kommentatorin und stellvertretende Chefredakteurin bei der Wochenzeitung "Obschtschaja Gaseta".

Im Westen sah man sie als unabhängige Journalistin, doch in Russland galt sie bei vielen Kollegen als Nestbeschmutzerin und in russisch-nationalistischen Kreisen als „Feindin des russischen Volkes“. Nach ihren Angaben war sie 2004 Opfer eines Giftanschlags.

„Man kann jemanden, der mit fanatischer Hingabe über die Welt berichtet, die uns umgibt, nicht aufhalten. Mein Leben mag schwer sein, öfter noch entwürdigend. Am Ende bin ich nicht mehr jung genug, um dauerhaft Ablehnung zu erfahren. Diese höhnischen Artikel, die in anderen Zeitungen über mich erscheinen und mich als die Irre von Moskau darstellen. Ich finde es ekelhaft, so zu leben. Ich würde mir ein wenig mehr Verständnis wünschen.“

Anna Politkowskaja wurde am 7. Oktober 2006 gegen 16.03 Uhr im Fahrstuhl ihres Hochhauses durch mehrere Schüsse ermordet. Es war der Geburtstag des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Und der Westen schwieg.

"Wo bleibt der öffentliche Protest der internationalen Organisationen? Schweigen auf dem innenpolitischen Parkett in Deutschland! Kommunikationsroutine! Haben Journalistenorganisationen zu den Ereignissen keinen eigenen Debattenbeitrag zu leisten? Wo sind die Proteste der Künstler, der Theater- und Filmemacher? Nur Einzelne melden sich zu Wort. Die Reaktionen bleiben dürftig. Verharren wir in einer Betroffenheitspose und fürchten uns nur vor der Kritik am Energielieferanten Russland? Hat uns die Zivilcourage in den westlichen Demokratien nun vollends verlassen? Wo bleiben die Demonstranten und die Reaktionen der Gorbi-Freunde von einst, die darauf hinweisen, dass sich hier ein Mensch, die Mutter zweier Kinder, um der Wahrheit willen geopfert hat? Reicht es, wenn Menschenrechtsorganisationen für uns stellvertretend „Presse-Statements“ formulieren, die nicht mehr als Nachrichtenfutter für die internationalen Newsagenturen sind – am nächsten Tag schon vergessen?"

(Norbert Schreiber: Chronik eines angekündigten Mordes. Wieser Verlag, Klagenfurt 2007)

Im Erscheinungsjahr dieses Buches, 2007, teilte die russische Staatsanwaltschaft mit, dass der Auftraggeber des Mordes im Ausland lebe. Alle wussten, dass damit Boris Beresowski, der wegen Meinungsverschiedenheiten mit seinem ehemaligen Protegé Wladimir Putin nach Großbritannien emigrierte, gemeint war. Mehr als 80 Prozent der Hörer von "Echo Moskau" bezweifelten dies.

Eine Chronik zu der Morduntersuchung gibt es auf Wikipedia.

Zwischen Dezember 2003 und September 2005 entstand ihr "Russisches Tagebuch". Sie schreibt über die Kälte von Putins Machtsystem und beklagte die Blindheit und mutwillige Ignoranz des Westens gegenüber den Missständen in ihrer Heimat.

"Mit analytischer Schärfe benennt sie Verletzungen fundamentaler Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und deren Auswirkungen auf eine Bevölkerung, die sich resigniert aus der politischen Verantwortung verabschiedet hat", aus der Begründung der Jury des Geschwister-Scholl-Preises 2007.


Quelle
Wikipedia
Stern, 1/2007
Edelgard Abenstein: Frauen, die gefährlich leben – Geschichten von Mut und Abenteuer, Knesebeck