Dienstag, 30. September 2025

Edeltraud Eckert: Jahr ohne Frühling. Gedichte und Briefe

Ihre Gedichte sind alle so traurig. Genau wie ihre Briefe. In denen sie sich auch oft wiederholt. Sie kann so vieles, was sie gerne möchte, nicht schreiben, weil sie zensiert werden. Zu Beginn klingen sie manchmal noch hoffnungsvoll, doch je mehr Zeit vergeht - ihr könnt es euch denken.

Der Brief, den sie nach ihrem Betriebsunfall nach Hause schrieb. Er ist eine Untertreibung. Schließlich wurde sie erst so gut wie gar nicht behandelt und dann auch noch falsch:

"Leipzig Meusdorf, den 29. Januar 1955

Liebe Eltern! Durch einen schweren Betriebsunfall bin ich am 26. Januar nach Leipzig verlegt worden. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Es wird viel für mich getan. Mich hat es mal wieder am Kopf erwischt, aber ich versuche, alles so gut wie möglich zu ertragen. Bitte richtet Pakete danach ein, viel Obst. Den Brief dürft ihr mir beantworten, die Adresse ist, wie der Absender lautet. Lasst euch alle grüßen von eurer Traudl."


Buchinfo

Auflehnung und Angst, Resignation und immer wieder Hoffnung auf ein freies und selbstbestimmtes Leben prägen die Gedankenwelt von Edeltraud Eckert, die Anfang der 50er Jahre wegen ihrer regimekritischen Haltung im DDR-Gefängnis Waldheim einsaß. In einem ebenso berührenden wie authentischen Gedichtzyklus verarbeitet sie ihre innere Zerrissenheit und ihre Ohnmacht gegenüber dem Zwangsapparat der DDR.

Zusammen mit den Briefen an ihre Eltern, die sie einmal monatlich unter Aufsicht schreiben durfte, ergibt sich so ein erschreckend klares Bild von den regiden und menschenverachtenden Methoden politischer Verfolgung in der DDR.

Mit "Jahr ohne Frühling" werden der Öffentlichkeit erstmals sämtliche Gedichte und Briefe von Edeltraud Eckert zugänglich gemacht. Zugleich bildet das Buch zusammen mit Radjo Monks "Blende 89" den Auftakt der auf 20 Bände angelegten Reihe "Die Verschwiegene Bibliothek". 

Zofia Chądzyńska: Das Band des Pavillons (1978)

Aus dem Polnischen von Kurt Kelm
Der Kinderbuchverlag Berlin, 1982

Buchinfo

Die 8b will ein Theaterstück aufführen, und Hauptdarstellerin soll Anka sein. Doch die Freude des Mädchens verwandelt sich in Verzweiflung, als die spöttische Bemerkung fällt: "Das hat es noch nicht gegeben, daß die Balladyna von einer Stotterliese gespielt wird."

Es stimmt, Anka stottert ein wenig. Alle anderen haben bis jetzt taktvoll darüber hinweggehört, und auch für Anka ist das Thema tabu gewesen. Was nun? Anka beschließt, der Schule den Rücken zu kehren. Mutter allerdings wird dafür bestimmt kein Verständnis haben, und den Vater möchte Anka auch nicht mit der Sache belasten. Zum Glück ist da noch die alte Ärztin, Ankas gute Bekannte. Ob sie vielleicht einen Rat weiß? Anka greift zum Telefonhörer...


Buchbeginn

Eines Tages ließ Herr Klucz - auch Kluczyk, das Schlüsselchen, genannt - die 8b einen Aufsatz schreiben. Thema: "Ein Selbstporträt". Mehrere Schüler fragten, weshalb nicht "Mein Selbstporträt", worüber Kluczyk sich mächtig ärgerte, und dann schrieb jeder etwas anderes, doch wie Anka meinte, schrieb niemand die Wahrheit. Alle wußten, daß Herr Klucz einige Aufsätze in der Klasse vorlesen würde, und schrieben entweder, was sie selber gern von sich dachten, oder was sie den Klassenkameraden über sich mitzuteilen wünschten.

Montag, 29. September 2025

Nicole Seifert: "Einige Herren sagten etwas dazu" - Die Autorinnen der Gruppe 47

Mir fiel es noch nie so schwer, ein Buch zu beenden. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre oder nicht interessant genug. Ganz im Gegenteil. Aber so geballt zu lesen, wie Frauen herabgewürdigt werden, sie nur nach Äußerlichkeiten beurteilt werden und nicht nach ihren Werken. Was müssen viele der Männer dieser Gruppe für Angsthasen gewesen sein.

Dies ist nicht das erste Buch dieser Art, das ich gelesen habe. Ich erinnere an "Zensiert, verschwiegen, vergessen" von Ines Geipel und "Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben" von Iris Schürmann-Mock. Nach diesen Leseerfahrungen möchte ich mich fast den Ärzten anschließen: "Männer sind Schweine". Und ich habe immer weniger Lust, das Buch eines Autoren in die Hand zu nehmen.


Kiepenheuer & Witsch, 2024


Buchinfo

Nicole Seifert erzählt die Geschichte der Gruppe 47 aus einer neuen Perspektive: der der Frauen. Ihr Ergebnis kommt einer Sensation gleich. "Einige Herren sagten etwas dazu" macht es zwingend, die deutsche Gegenwartsliteratur neu zu denken, die literarische Landschaft neu zu ordnen.

Es waren viel mehr Autorinnen bei den berühmt-berüchtigten Treffen der Gruppe 47 als Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, aber sie sind in Vergessenheit geraten, sie fielen aus der Geschichte heraus – wie sich nun herausstellt, hatte man ihnen oftmals gar nicht erst Zutritt gewährt. Und wurden sie miterzählt, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte, sondern als begehrenswerte Körper oder als tragische Wesen. Nicole Seifert erzählt von den Erfahrungen der Autorinnen bei der Gruppe 47, von ihrem Leben in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der BRD und von ihren Werken.

Ein kluges, augenöffnendes Buch, das sofort große Lektürelust entfacht. Schriftstellerinnen wie Gisela Elsner und Gabriele Wohmann müssen neu gelesen, Schriftstellerinnen wie Ruth Rehmann, Helga M. Novak und Barbara König neu entdeckt werden. Ein ganz neuer Blick auf die Gruppe 47 und die Nachkriegsliteratur, der uns bis in die Gegenwart führt.

"Die Geschichte einer Frau umzuschreiben, erfordert zwangsläufig die Auseinandersetzung mit den männlichen Vorgaben, die sie zuvor definiert haben. Um gegen eine Ideologie zu argumentieren, muss man sie anerkennen und artikulieren. Im Zuge dieses Prozesses mag man seiner Opposition unabsichtlich Gehör verschaffen."

Jia Tolentino, "Trick Mirror"


Die Frauen der Gruppe 47

Ruth Rehmann

Ingrid Bachér

Ilse Schneider-Lengyel

Ilse Aichinger

Ingeborg Bachmann

Ingeborg Drewitz

Barbara König

Gabriele Wohmann

Gisela Elsner

Christine Koschel, Christa Reinig

Griseldis L. Fleming

Helga M. Novak

Elisabeth Borchers

Elisabeth Plessen

Barbara Frischmuth

Renate Rasp


Buchbeginn

Als Ruth Rehmann Ende Oktober 1958 den Gasthof Adler in Großholzleute im Allgäu betritt, überfallen sie Zweifel. Sie will dort am nächsten Tag vor der Gruppe 47 ein Kapitel aus ihrem ersten, noch unfertigen Roman lesen, aber war das die richtigen Entscheidung? 


Zitate

Es gab so viele Stellen in diesem Buch, die es wert wären, herausgeschrieben zu werden. Aber ihr sollt, falls ich euch neugierig gemacht habe, das Buch ja noch lesen und so belasse ich es bei diesen beiden:


"Ilse Schneider-Lengyel ist die erste einer Reihe von Autorinnen, bei denen die Diskrepanz zwischen ihrem Leben und Wirken und dem Bild, das später von ihnen gezeichnet wurde, gigantisch ist. Ihr Beispiel macht deutlich: Um die Autorinnen der Gruppe 47 überhaupt sehen und beurteilen zu können, müssen sie zunächst einmal von den Geschichten befreit werden, die um sie herum gesponnen wurden, seien sie abfällig oder Stoff für Legenden. Denn wenn die Frauen ,nicht' aus der Geschichte der Gruppe 47 herausfielen, sondern miterzählt wurden, dann nicht als Autorinnen ihrer Texte. Die männliche Rede über das Weibliche hat sich nicht nur im Fall von Ilse Schneider-Lengyel vor ihr Werk gestellt, Ähnliches geschah auch bei Ilse Aichinger."


"Mir fehlt in der Debatte um weibliche Kunst und Weiblichkeit im Öffentlichen immer ein einziges Wort: Verachtung. Seltsamerweise spricht es nie jemand aus, nicht einmal Feministinnen, vielleicht weil sie es sich nicht eingestehen wollen, doch es ist bezeichnend für das, was die Frau für ihre Arbeit bekommt, auch wenn das eben nie ausgesprochen wird. Die Verachtung des weiblichen Werks."

Elfriede Jelinek

 

Sophie Pataky

Vollständiger Neusatz beider Bände in einem Buch
CreateSpace Independent Publishing Platform, 2014


Sophie Caroline Pataky wurde am 5. April 1860 in Podiebrad, Kaisertum Österreich, geboren. Mit ihrem zweibändigen „Lexikon deutscher Frauen der Feder“ erschien 1898 das erste von einer Frau herausgegebene deutschsprachige Schriftstellerinnenlexikon.

Sie war mit Carl Pataky verheiratet, der 1875 in Wien einen Fachverlag für Metalltechnik gründete. Ab Ende der 1870er Jahre lebte das Paar gut zehn Jahre in Berlin.

Im Sommer 1896 nahm Sophie Pataky im Berliner Rathaus an einem Internationalen Frauen-Kongress teil. Die im Allgemeinen als „Frauenfragen“ behandelten Fragen interessierten sie sehr. Um sich mit derlei zu beschäftigen, hatte sie bisher zu viel zu tun: Haus- und Familienpflichten und die Mitarbeit in dem Fachverlag ihres Mannes. Die geistige Tätigkeit für die Frau war ihr zwar nicht ganz unbekannt, doch wurde es bisher von ihr nicht allzu sehr gewürdigt. Doch auf diesem Kongress wurde ihr bewusst,

„wieviel Intelligenz, Wissen, Energie und zielbewusstes Streben, Eigenschaften, die man nur bei Männern zu finden gewohnt ist, auch bei Frauen vorhanden sind“.

Nun schaute sie genauer hin und sie sah, dass innerhalb der letzten 30 Jahre viel von und über Frauen geschrieben wurde. Nur ein Nachschlagewerk gab es darüber nicht. Es gab zwar verschiedene die gesamten Schriftsteller umfassende Lexika, in denen sich auch weibliche Autoren finden, doch waren die meisten nicht unter ihrem eigenen Namen gelistet. Und es waren nur die enthalten, die Bücher veröffentlicht haben. All die Frauen der Feder, die bei Zeitschriften aller Art, als Übersetzerinnen, Redaktricen usw. tätig waren, waren nicht berücksichtigt.

Unterstützung vonseiten eines Verlages gab es kaum, obwohl es seit 70 Jahren kein aktuelles biografisches Lexikon der Frauenliteratur mehr gab. Doch die guten Erfahrungen, die sie mit den Frauen der Feder hatte, wog diesen Ärger auf. Sie hat von den Frauen so viel Anregungen bekommen und interessante Autobiografien, die sie leider aus Platzgründen nicht ungekürzt in ihre Arbeit einbeziehen konnte. Viele Frauen fühlten sich nicht berufen zu schreiben, hatten keinen inneren Drang, schriftstellerisch tätig zu werden. Sie taten es aus purer

„Not, die Sorge um die darbende Familie, den siechen Gatten, die vaterlosen Kinder oder die der Unterstützung bedürftigen Geschwister, welche der Tochter, der Gattin, der Mutter oder Schwester die Feder in die Hand drückten, um das in ihr schlummernde Talent auszumünzen“.

Gut zwei Jahre arbeitete Sophie Pataky an diesem zweibändigen Lexikon. Es wurde im Verlag ihres Mannes 1898 rausgebracht, doch da es thematisch nicht passte, wurde es schon 1899 vom Verlag Schuster & Löffler übernommen.

Eigentlich hatte sie als Titel „Lexikon deutscher Schriftstellerinnen“ im Sinn, doch da protestierten viele Frauen, weil sie sich nicht als Schriftstellerin sahen. 6000 Namen sind in beiden Bänden aufgelistet, teilweise nur mit Namen und Adresse. Dadurch, dass sie Kochbuchautorinnen, Journalistinnen, Herausgeberinnen u. a. aufnahm, ergab sich das umfassendste Bild der schreibenden Frauen.

„Überraschende Enthüllungen wird dieses Werk vielen Buchrecensenten bringen, die das Werk eines männlichen Autors zu recensieren glaubten, während es von einer Frau geschrieben wurde.“

Als Vorstandsmitglied im Deutschen Schriftstellerinnenbund (1898) begann sie mit dem Aufbau einer Bibliothek mit Werken deutschsprachiger Autorinnen. Von Frauen, die sie in ihr Lexikon aufgenommen hatte, ließ sie sich deren eigene Werke zusenden und nahm sie in die „Bibliothek deutscher Frauenwerke“ auf. 1000 Bücher sollten es im selben Jahr schon werden. Die Autorin Anna von Krane unterstellte ihr, dass sie sich mit den Büchern bereichern wollte.

Das Ehepaar lebte ab 1907 in Meran. Carl Pataky nahm K. J. Müller als stillen Teilhaber in den Verlag auf, der diesen dann nach dem Tode Patakys im August 1914 übernahm.

Sophie Pataky starb am 24. Januar 1915 in ihrem Hause am Untermais an einem Gehirnschlag und wurde zwei Tage später auf dem katholischen Friedhof begraben. 

Samstag, 27. September 2025

Anna Seghers: Der Ausflug der toten Mädchen

Buchinfo

Auf einer Wanderung durch Mexiko erinnert sich Anna Seghers in der Titelerzählung fast wie im Traum an einen Schulausflug im Jahr 1912 und an ihre Klassenkameradinnen Leni, Marianne, Lore und Nora in einst glücklichen Tagen. Rückblickend schildert sie deren Schicksale über die Zeit des Ersten Weltkrieges bis zum Nationalsozialismus. Tragische Geschichten über Liebe, Freundschaft, Verrat, Grausamkeit, Heuchelei und Tod.


Buchbeginn

Der Ausflug der toten Mädchen

"Nein, von viel weiter her. Aus Europa." Der Mann sah mich lächelnd an, als ob ich erwidert hätte: "Vom Mond." Er war der Wirt der Pulqueria am Ausgang des Dorfes. Er trat vom Tisch zurück und fing an, reglos an die Hauswand gelehnt, mich zu betrachten, als suche er Spuren meiner phantastischen Herkunft.

Grazia Deledda: Schilf im Wind

Aus dem Italienischen von Bruno Goetz
Mit einem Nachwort versehen von Federico Hindermann
Manesse Verlag, 2021


Buchinfo

Ein poetisches Meisterwerk der italienischen Moderne

In der Kunst, mit wenigen Worten Stimmungen zu zaubern, ist Grazia Deledda bis heute unerreicht. Auf der abgeschiedenen Insel der Granatapfelbäume und der wilden Kaktusfeigen siedelt die Erzählerin ihr archaisch anmutendes Drama um Schuld und Sühne an. Wie Schilf im Wind finden sich die Insel-Menschen vom Schicksal erfasst, geknickt, zu Boden gedrückt und zuweilen wieder aufgerichtet. Was an Deleddas Prosa jedoch am meisten bezaubert, sind die poetischen Natur- und Landschaftsbeschreibungen ihrer Heimat Sardinien: an den Ufern der türkisen Flüsse gelbliche Binsen, von Silberfäden umsponnen, Mandel- und Pfirsichhaine vor stahlblauem Himmel, meergrünes Schilf und Palmengestrüpp, inmitten hügeliger Flure da und dort weiße Dörfer mit Glockentürmen, zerfallenes Gartengemäuer, abbröckelnde Hauswände, Überbleibsel von Höfen, dazwischen heilgebliebene Katen, und hoch darüber thronend eine schwarze Schlossruine ...

Für die Jubiläumsausgabe anlässlich des 150. Geburtstags Deleddas am 27.9.2021 wird die Manesse-Übersetzung aus dem Jahre 1954 gründlich überarbeitet und kommentiert.


Buchbeginn

Den ganzen Tag über hatte Efix, der Knecht der Damen Pintor, an der Verstärkung des einfachen Damms gearbeitet, den er im Lauf der Jahre nach und nach und mit großer Mühe längs des Flusses in der Talsenke des kleinen Landguts eigenhändig errichtet hatte. Und bei Anbruch des Abends saß er vor seiner Hütte unterhalb des grünblauen Schilfsaums, auf halber Höhe des weißen ,Taubenhügels', und übersah sein Werk von oben.

Mittwoch, 24. September 2025

Nicci Gerard: Allein aus Freundschaft

Gleich zu Anfang lernen wir Gaby und Nancy kennen. Sie gehen noch zur Schule. Gaby hängt in einem Baum fest, schafft es nur noch mit der Hilfe von Nancy. 

Jahre später lernt Gaby Connor auf dramatische Weise bei einem Autounfall kennen. Und sie verlieben sich ineinander. Sie heiraten und Sohn Ethan kommt zur Welt. 

Bis hierher waren sie ein tolles Gespann: Gaby und Connor und Nancy und Stefan, Gabys Bruder. 

Aber dann geschieht es: Gaby ging es nach der Schwangerschaft nicht gut. Und als sie wieder auf den Beinen war, verschwand Nancy einfach. Wenn Gaby sie nicht noch erreicht hätte, hätte sie sich nicht mal von der Freundin verabschiedet.

Das Leben ging weiter. Gaby und Connor führten eine glückliche Ehe. Aber jahrelang hat sich Gaby gefragt: Warum? Warum ist meine beste Freundin einfach gegangen?

Was für eine tolle Geschichte. Nicht nur eine Geschichte über Freundschaft, nein, auch Gabys und Connors Ehe nimmt hier viel Raum ein. 

Ich war beim Lesen irgendwie hin und her gerissen. Da ist eine Frau, die ein Geheimnis hat, das sie mit niemandem teilt. Und dann ist da eine andere Frau, die es nicht bleiben lassen kann, sich einzumischen. In fremden Dingen zu wühlen, zu spionieren. Auch wenn es die beste Freundin ist, hat sie ein Recht darauf?

Sollte man lieber sagen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß? Oder muss jedes Geheimnis aufgeklärt werden, egal, wie es die Beteiligten trifft?

Was ich ganz toll finde: Nicci Gerard beschreibt ganz zart, wie es die einzelnen Personen trifft, was sie durchmachen. Aber sie lässt sie keinen "Seelenstriptease" führen. 

Ich habe eine Schriftstellerin gefunden, von der ich unbedingt noch ein Buch lesen möchte.

Die Autorin veröffentlicht übrigens mit ihrem Ehemann unter dem Pseudonym Nicci French seit vielen Jahren Krimibestseller.


Buchbeginn 

Jemand rief ihren Namen, aber Gaby konnte sich nicht bewegen. Nicht nach oben, hinauf in das immer spärlicher werdende Geäst, das im Wind ächzte und knackte; nicht nach unten, zum sicheren, aber unerreichbaren Boden.

Samstag, 20. September 2025

Christa Anita Brück: Der Richter von Memel

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Die Kriminalgeschichte "Der Richter von Memel" spielt auf dem Hintergrund der litauisch-deutschen Konflikte im damaligen Memelland.

Christa Anita Brück: Ein Mädchen mit Prokura

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Ein Klassiker der 1930er-Jahre-Literatur, neu entdeckt: das Schicksal einer klugen und ehrgeizigen Frau als Bankangestellte in der Weltwirtschafskrise

Berlin, 1931. Thea Iken ist Prokuristin im Bankhaus Brüggemann Sohn. Sie ist unbedingt loyal, arbeitet viel und genießt das Vertrauen des Bankdirektors, dem sie freundschaftlich verbunden ist – für seinen jugendlichen Sohn ist sie eine Art Ersatzmutter. Den übrigen Angestellten ist sie ein Dorn im Auge oder bestenfalls ein Rätsel, denn sie gibt wenig von sich preis. Die aufkommende Bankenkrise versetzt Thea und ihre Kollegen wie den Rest der Welt in Aufruhr. Existenzen sind bedroht oder werden zerstört, die Welt wirkt ungewiss und bedrohlich. Als es in der Bank zu einem Mord kommt, gerät Thea gar in Verdacht. Sie wird verhaftet. Klar ist, sie hat etwas zu verbergen – doch ist es wirklich ihre Schuld?

 

Christa Anita Brück: Schicksale hinter Schreibmaschinen

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Dieses Erlebnisbuch ist die Welt der abertausend Frauen, die Tag für Tag hinter der Schreibmaschine ihre Pflicht erfüllen, unterdrückt, beiseitegeschoben, vielfach mißbraucht und gedemütigt. Sie kämpfen gegen drei Fronten: die Sexualität des Mannes, den falschen Ehrgeiz ihrer eigenen Mitarbeiterinnen und gegen ihre eigene wirtschaftliche und seelische Not. Viele unterliegen in diesem verzweifelten Ringen um Anerkennung und Aufstieg, in ihrer Angst vor dem Altwerden, vor Arbeitslosigkeit und Krankheit, in ihrem Widerstand gegen Nachstellung und die Genüsse dieser Welt. Die Heldin des Buches, selbst seelisch zerbrochen, heimat- und arbeitslos, findet in Verzweiflung und Einsamkeit zu sich selbst zurück und gestaltet in tiefer Verantwortlichkeit in diesem Werk ohne Pathos, mit jener Eindeutigkeit der ungeschminkten Wahrheit, die ,Schicksale hinter Schreibmaschinen', die die Anerkennung wahrer Arbeitsfreude ebenso in sich schließen wie Anklage und Hilferuf.

 

Freitag, 19. September 2025

Hedwig Courths-Mahler

Hedwig Courths-Maler, geb. Mahler, deutsche Schriftstellerin, geb. am 18. Februar 1867 in Nebra (Unstrut), gest. am 26. November 1950 in Rottach-Egern. Mit gebürtigem Namen hieß sie Ernestine Friederike Elisabeth Mahler.

Noch vor ihrer Geburt starb ihr Vater, sodass sie als Halbwaise bei einem Schusterehepaar in Weißenfels aufwuchs. Um Geld zu verdienen, verließ sie früh die Schule und arbeitete in Leipzig als Gesellschafterin und Vorleserin für eine alte Dame. So entdeckte sie die Liebe zum Schreiben.

Ihre erste Erzählung "Wo die Heide blüht" schrieb sie mit 17 und sie wurde in einer Lokalzeitung abgedruckt. Dann arbeitete sie in Halle als Verkäuferin.

1889 heiratet sie in Leipzig den Maler Fritz Courths. Sie bekamen zwei Töchter. Der Fortsetzungsroman "Licht und Schatten" erschien 1904 im "Chemnitzer Tageblatt". Danach ließ sie das Schreibfieber nicht mehr los. Jährlich schrieb sie mehrere Romane, 1920 allein 14 Stück.

Ab 1905 lebte Hedwig Courths-Mahler 30 Jahre lang in Berlin. Sie war Mitglied der Reichskulturkammer und förderndes Mitglied der SS. Ab 1935 gab es kaum noch Neuauflagen von ihr, da sie sich weigerte, ihre Romane nationalsozialistischen Vorgaben anzupassen.

1950 starb sie in Rottach-Egern, wo sie auch beerdigt wurde.

Hedwig Courths-Mahler hat insgesamt 208 Unterhaltungsromane und -novellen geschrieben. Die Einbände ihrer Bücher wurden meist von ihrem Mann gestaltet.

Ihre Geschichten haben alle das gleiche Schema: den Standesunterschied. Liebende aus verschiedenen Klassen kämpfen gegen Intrigen um ihre Liebe, erlangen Reichtum und Ansehen.

Ein einziger ihrer Romane, "Wir sind allzumal Sünder", hatte kein Happy-End und wird vom Publikum abgelehnt. 

Mittwoch, 17. September 2025

Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff

Rowohlt Verlag, 1963


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In diesem ihrem ersten großen, soeben mit Vivian Leigh, Simone Signoret, Heinz Rühmann und Oscar Werner verfilmten Roman demonstriert die amerikanische Erzählerin an den Passagieren eines Ozeandampfers, der 27 Tage zwischen Vera Cruz und Bremerhaven unterwegs ist, die Fragwürdigkeit menschlicher Beziehungen in einer Welt der bürgerlichen Sentiments, politischen Ressentiments, rassischen Vorurteilen und erotischen Kompensationen.


Leseprobe

Ihre Herzen verhärteten sich wieder so plötzlich, daß es sie beide überraschte. Sie sahen einander mit kalten, rachsüchtigen, verstockten Blicken an, jeder fest entschlossen, den anderen die Scherben auflesen zu lassen, sofern etwas aufzulesen war. Auf der anderen Seite der Bar sahen sie den Gegenstand oder vielmehr den Vorwand ihres Streites mit Mrs. Treadwell beim Cocktail sitzen. Beide sahen frisch und unbekümmert aus und schienen weder der Hilfe noch des Mitleids zu bedürfen. Jennys beherrschte Sicherheit, ihr Vertrauen zur eigenen Auffassung von den Dingen schwanden bei diesem Anblick dahin. Sie wandte sich wieder zu David, sie bückte sich und hob den ersten Scherben auf, dann einen zweiten, und begann das, was sie zerbrochen hatte, wieder zusammenzusetzen.

 

Montag, 15. September 2025

Angela Carter: Wie's uns gefällt

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"Was sollen wir bloß anziehen?" Dora und Nora stehen vor dem Kleiderschrank, um sich richtig aufzutakeln, denn ihr Vater wird hundert und hat sie, seine illegitimen Töchter, zum erstenmal eingeladen. Dora und Nora selbst blicken auf eine siebzigjährige Karriere als Glamour-Girls zurück und legen auch heutzutage noch eine flotte Sohle aufs Parkett, wenn der Wirt in der versifften Stammkneipe eine Runde ausgibt.

 

Angela Carter: Helden und Schurken

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Eine postapokalyptische Fantasie. Carter vertauscht geschickt das Mittelalter der Vergangenheit mit dem der Zukunft. Nach dem Atomkrieg gibt es nur noch drei Arten von Menschen: „Die Professoren“, „Die Barbaren“ und die „Out People“. Letztere haben durch die „Bombe“ geschädigte Gene, deformierte Gliedmaßen und durch das Elend deformierte Gehirne.

 

Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen - Tagebuch einer Sibirienreise

 


Herausgegeben und mit einem Vorwort von Julia Finkernagel
Mit einem Auszug aus dem privaten Tagebuch und Fotos von Thomas Billhardt
Reihe: Die Reise-Reihe gegen Fernweh
Verlag: Büchergilde, 2024


Buchinfo

In ihrem literarischen Tagebuch berichtet Brigitte Reimann über eines der eindrücklichsten Erlebnisse: ihre Reise nach Sibirien im Sommer 1964 mit einer Delegation des FDJ-Zentralrats. Mit all ihrer Begeisterungsfähigkeit und sinnlichen Beschreibungskunst schildert sie grandiose Landschaften und Menschen, die voller Elan und unter widrigsten Bedingungen Neues schaffen. Gleichzeitig entsteht eine Reportage über das Reisen schlechthin und ein Selbstporträt Brigitte Reimanns.



Carson McCullers: Uhr ohne Zeiger

Buchinfo

Eine Uhr ohne Zeiger ist ein ganz und gar sinnloses Gerät; ein Zeitanzeiger, der keine Zeit anzeigt, ein Unding! Carson McCullers wählte dieses schwer verständliche Symbol als Titel für eine Erzählung, in der normale Zeitbegriffe und vollends Termine keinen Platz finden: ein Mann erfährt von seinem Arzt, daß er an einer unheilbaren Krankheit leide. Die Frist bis zum Sterben ist nicht exakt vorauszusagen. Des Mannes Lebensuhr hat keine Zeiger mehr!

Der Apotheker Malone, den die ärztliche Untersuchung zum Tode verurteilt, lebt in einer Stadt des amerikanischen Südens. Was sich da bis zu diesem Zeitpunkt abspielte, war durchschnittlicher amerikanischer Alltag. Alles hielt sich im gewohnten Rahmen; es gab wenig Grund zu großer Aufregung; man lebte, man liebte, man zog Kinder groß und hatte die üblichen Sorgen mit ihnen; man trank, man feierte Feste, und man verdaute. Der Bürger hatte seine Ruhe; auch der Apotheker Malone lebte ungestört dahin. Im Augenblick aber, da ihm der Tod so nahe gerückt wird, taucht der kleinstädtische Alltag in den Brennpunkt eines Vergrößerungsglases. Das Unscheinbare erscheint wichtig, das Kleine wird groß, das Unbedeutende bedeutsam. Die Kunst der Carson McCullers macht aus diesem Stoff eine atemberaubende Geschichte. 
 

Sonntag, 14. September 2025

Alice Berend: Bruders Bekenntnis: Die Lebensgeschichte eines Dobermanns von ihm selbst erzählt

Buchinfo

In „Bruders Bekenntnis“ lässt Alice Berend einen Dobermann, ein Rassehund, aufgewachsen „in einem besseren Hause“, aus seinem Leben erzählen. Von der Macht und Launenhaftigkeit der Menschen, ihren Liebesgeschichten, den Umgang mit Katzen, von Pflichteifer und Abenteuern, der Treue zum Herrn und dem Jahrmarkt des Lebens. Es ist ein liebenswürdiges Buch. Es strahlt warmen Humor und trockenen Witz aus, mitunter schwingt auch ein nachdenklich machender Ton mit. Der Roman zeugt von großer Menschenkenntnis. Und „Bruders Bekenntnis“ gilt als einer der besten Tierbücher der deutschen Literatur. Nicht nur Tierliebhaber werden ihre Freude daran haben.

 

Alice Berend: Marionetten des Schicksals

Buchbeginn

Der Schriftsteller Günter Klemens saß, wie immer, wenn die Sonne herunter und damit die Arbeitszeit für den Maler vorüber war, rauchend in Thomas Dittmars Atelier.
"Was in aller Welt hast Du eigentlich heute vor", rief er endlich, nachdem er schweigend Thomas Dittmar betrachtet hatte, der in seiner ganzen Breitschultrigkeit vor dem hohen Stehspiegel stand und eine Krawatte nach der andern mit Umständlichkeit umknüpfte, und gleich darauf mit ärgerlichem Grunzen wieder abzerrte.
"Ich bin ausgebeten heute", antwortete Dittmar kurz.

 

A. S. Byatt: Das Schicksal der Götter

Buchinfo

Ragnarök ist der große nordische Mythos vom Untergang der Welt, der auch Richard Wagner zu seiner Oper "Götterdämmerung" inspirierte. Ein kleines, phantasiebegabtes Mädchen hält eine Nacherzählung der germanischen Göttersagen in den Händen, und die nordische Sage von Ragnarök, dem Ende der Götter, wird bald zu ihrer Lieblingsgeschichte. Doch fragt es sich, wer diese Germanen sein mögen und was sie von jenen unterscheidet, die den Tod aus nächtlichem Himmel schicken und vor deren Bomben sie mit ihrer Mutter aufs Land hat fliehen müssen. Odin, Freyr und Thor sterben in einem letzten Kampf gegen die naturgewaltigen Riesen; die Sonne und der Mond werden vom Fenriswolf verschluckt, die Midgardschlange steigt aus dem Wasser empor, zerquetscht und überflutet die Erde und vergiftet das Meer; das Leben erlischt. Aber es ist dieses Inferno, das einen Ausgleich von Chaos und Ordnung schafft und damit einen Neuanfang der Welt denkbar macht.

 

A. S. Byatt: Geschichten von Erde und Luft

Buchinfo

Wie in den erfolgreichen Geschichten von "Feuer und Eis" gelingt es Antonia S. Byatt auch in diesen Erzählungen, große Themen in meisterhafte Miniaturen zu fassen.


Leseprobe

Nach Peters Auszug nahm Josephine weiterhin Verschollene auf. Sie gab keinem von ihnen Peters Zimmer, das sie geputzt und aufgeräumt für seine eventuelle Rückkehr bereithielt. Sie schliefen wie alle ihre Vorgänger in gemütlichen Dachkammern, wo sie Musik hören konnten, ohne Josephine zu stören. Eine dieser Dachkammern fegte sie für Henry Smee, und zur Begrüßung stellte sie ihm einen Blumenstrauß aus dem Garten auf den Schreibtisch.

 

A.S. Byatt: Frauen, die pfeifen

Buchinfo

Swinging London, 1968. Frederica Potter wirft ihren Job an der Kunsthochschule hin und macht, fast durch Zufall, Karriere als Moderatorin beim Fernsehen. Die Beziehung zu ihrem Geliebten John geht in die Brüche. Krisen auch in ihrem Bekanntenkreis: die Verhaltensforscherin Jacqueline, ihr Kollege Luk, Marcus, Fredericas eigenwilliger Bruder – alle sind sie auf der Suche nach dem richtigen Mann, der richtigen Frau, nach Sex, nach intellektueller Herausforderung und spiritueller Einsicht. In Fredericas Heimat Yorkshire treibt derweil der Zeitgeist seltsame Blüten. Eine Anti-Universität wirrer Protestler stellt sich gegen die etablierten Wissenschaften. Auf einer Farm zieht eine Kommune mit einem charismatischen Führer ein, abgeschottet vom Rest der Welt. Die Ereignisse überstürzen sich, ein Brand bricht aus, Menschen kommen ums Leben. Würde es einen neuen Anfang geben können? Es sind nicht nur die vielfältigen Schicksale ihrer Figuren, durch die Antonia S. Byatt ihre Leser fesselt. Körper und Geist, Kunst und Wissenschaft, Psychoanalyse und Religion – nichts Geringeres als die großen Fragen der westlichen Zivilisation verbindet sie in einem kunstvollen Spiel mit Genres und Motiven zu einem komplexen, schier unerschöpflichen Romankosmos.

Leseprobe

Zorn verlieh ihm rastlose Energie. Er packte eine Tasche, ging zu seinem Wagen und fuhr in der Dunkelheit in das Moorland, zurück nach Gash Fell. Er fuhr durch dunkle Tannenfelder und hinaus in das Bergland, wo sein kleines Haus kauerte, kalt und dunkel. Er trat ein, entzündete eine Petroleumlampe und ergriff eine Fackel. Sein eigener Schatten dräute über ihm, ein bärtiger Dämon, der über weißgekalkte Wände und Decken huschte. Er entzündete Öfen und betrachtete seinen Laubenschmuck. Ihn überkam der Wunsch, alles wegzuwerfen, in einer Geste des Verzichts aufeinanderzuhäufen, Schädel und Schalen zu verbrennen und darauf herumzutrampeln. 

A. S. Byatt: Geschichten von Feuer und Eis

Buchinfo
Mit ihrer Kurzgeschichtensammlung präsentiert die Autorin funkelnde Geschichten, die sich mit Themen wie Einsamkeit und Leidenschaft, Betrug und Loyalität, Sehnsucht und dem Streben nach Glück auseinandersetzen. Sie erzählt von den Bruchstellen im Leben von Menschen, die glauben, ein ausgefülltes Leben zu führen und doch trotz aller Aktivitäten eine seltsame Leere verspüren. Die Schauplätze sind mannigfaltig, ihre Figuren bewegen sich in der Hitze der Provence, in den kalten Wäldern Skandinaviens, in nach Kreide riechenden Klassenzimmern, in den Straßen der Vorstadt oder in einer steinigen, abgelegenen Wildnis. "Geschichten von Feuer und Eis" sind kleine magische Geschichten, die nicht nur Fans begeistern werden, sondern auch als Einführung in A. S. Byatts Werk gelesen werden können. Die wohlhabende Daphne Gulver-Robinson, die ihren Mann auf einer Geschäftsreise in den Fernen Osten begleitet, will die Zeit bis zum Abflug nutzen, um noch ein paar Dinge einzukaufen. In einem riesigen, unüberschaubaren Einkaufszentrum verliert sie die Orientierung, ihre Handtasche wird geraubt, ihr Kleid zerrissen, sie kann sich nicht ausweisen und wird von einem Polizisten, der sie für eine Bettlerin hält, mit einem Stock vor die Tür gejagt.
Ein Maler entdeckt in seinem hockneyblauen Swimmingpool eine schillernde Wasserschlange, ein unglückliches, verzaubertes Geschöpf, das unermeßliche Reichtümer und eine treue Frau zu werden verspricht, wenn es durch einen Kuß erlöst werde. Doch der Maler ist weniger am Erwerb einer Ehefrau interessiert als daran, die faszinierenden Farbschattierungen dieses unwirklichen Reptilienleibs zu malen, und hält die Schlange mit vagen Versprechungen hin, die schließlich auf ganz unerwartete Weise in ihre ursprüngliche Gestalt zurückfindet. In den Geschichten von Feuer und Eis entfaltet Antonia S. Byatt eindrucksvoll das gesamte Spektrum ihres literarischen Könnens.

Leseprobe
Die Prinzessin verließ den Baum den Rest des Tages nicht mehr. Sieh nur, sagte sie zu Hugh, welch vielfältige Muster die Farben beschreiben, sieh nur, wie das Licht sich in den Kugeln der Früchte fängt, in den Granatapfelkernen, den Blütenblättern. Sieh nur die Käfer in den Spalten des Baumstamms, die wie kleine Juwelen glitzern, sieh nur die Federn im Schwanz des Vogels aus gesponnenem Glas. Was für ein Mann hatte so etwas geschaffen?
"Kein Prinz, sondern ein Handwerksmann", sagte Hugh, der ein wenig eifersüchtig war. "Ein Prinz findet nur den besten Mann und bezahlt ihn. Ein Prinz findet höchstens die Metapher, und der Handwerker verleiht ihr Gestalt." 

A. S. Byatt: Geisterbeschwörung

Buchinfo
An einem stürmischen Nachmittag des Jahres 1875 finden sich im Hause eines pensionierten Kapitäns sechs Personen zu einer Séance zusammen. Im Wechselspiel von spiritistischer und poetischer Evokation werden die Schatten der Vergangenheit und die Gespenster der eigenen Einbildung herbeigerufen. Doch zum - überraschenden - Schluß sind alle bereit zur Rückkehr in die diesseitige, sinnliche Welt. Die Geisterbeschwörung wird zur Geisteraustreibung.

Leseprobe
Das Feuer sank ein wenig in sich zusammen. Die Dunkelheit nahm zu. Sophy Sheekhy sagte mit klarer, ruhiger Stimme: "Geister sind unter uns, ich spüre ihre Gegenwart, und ich rieche Rosenduft. Kann jemand anders außer mir den Rosenduft wahrnehmen?"
Mrs. Papagay sagte, es wolle ihr scheinen, als könne auch sie Rosen riechen. Emily Jesse atmete tief ein und hatte den Eindruck, durch Aarons Leberausdünstung und die Nachwirkungen eines Furzes Pugs - worüber eine Bemerkung zu verlieren alle Anwesenden viel zu wohlerzogen waren - hindurch schwaches Rosenaroma zu erahnen. 

 

A.S. Byatt: Die Geschichte von der ältesten Prinzessin

Buchinfo

Es war einmal ...
In unserer Zeit der Entmythisierung der Welt gewinnen Märchen zunehmend an Bedeutung. Immer mehr Menschen lassen sich in eine andere Welt entführen. Antonia S. Byatt, Autorin des Erfolgsromans "Besessen", knüpft an die Tradition des Märchenerzählens an, doch sind ihre Geschichten moderne Märchen, ihre Helden selbstbewußte Figuren, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen, wohlwissend, daß es nicht immer zum Happy-End kommen muß.

Der vorliegende Band versammelt eine Auswahl an Märchen, die teils aus A. S. Byatts größeren Dichtungen bekannt sind, teils eigens für diese Sammlung geschrieben wurden. Das Spektrum reicht vom volkstümlich anmutenden Märchen in der Nachfolge der Brüder Grimm, von Sagen und Feenmärchen über romantische Schauergeschichten bis hin zur aktuellen Antikriegsparabel.


Leseprobe

Und ich sagte - antworten konnte ich ihm -, daß es mich nicht danach gelüste zu heiraten und daß ich nur den Wunsch hätte, ledig und glücklich mit meinem geliebten Bruder zu leben. Darauf sagte er, daß dies nicht möglich sei, daß er meine Hand erlangen würde, ob ich es wolle oder nicht, und daß mein Bruder in dieser Angelegenheit so denken würde wie er. Ich sagte, das würden wir sehen, und er antwortete frech, während die unsichtbaren Instrumente im ganzen Zimmer klangen und seufzten und dröhnten: ,Sieh nur zu, aber sprechen wirst du über das, was in diesem Raum vor sich gegangen ist, nicht, denn ich habe deinen Mund so gut versiegelt, als hätte ich dir die Zunge herausgeschnitten.' 

Milena Jesenská

 "Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe", schrieb Franz Kafka über Milena Jesenská. - Milena Jesenská - Kafka-Freunden wird sie sicherlich zumeist nur als Milena bekannt sein. So ging sie zumindest in die Literaturgeschichte ein. Franz Kafka hat sie mit seinen Liebesbriefen unsterblich gemacht. Doch sie war mehr als nur die Empfängerin hinreißender Liebesbriefe (ihre eigenen Briefe an Kafka sind leider verschollen). „Milena Jesenská war eine begnadete Journalistin, mit einer großen Empathie, (…) ein weiblicher Egon Erwin Kisch“, sagt Milena-Biografin Alena Wagnerova.


Milena Jesenská wuchs in einem Haus an der Grenze zwischen der Prager Alt- und Neustadt, das war damals die Obstgasse 17, als Einzelkind auf. Als sie drei Jahre alt war, bekam sie zwar noch einen Bruder, doch er überlebte nur sechs Monate lang. Sie war in einem Zwiespalt: Alle kümmerten sich nur um das kranke Baby, sie fühlte sich zurückgesetzt und ungeliebt. Als er starb, trauert sie zwar, empfindet aber auch Erleichterung, für die sie sich schämt. Sie wird ihren Bruder nie vergessen, bittet Kafka später, sein Grab zu besuchen. Ihr Vater, der Prager Zahnarzt Jan Jesenský, hatte in diesem Haus auch jahrelang seine Praxis. Um sein Studium zu finanzieren, hatte er sich eine Frau aus reichem Elternhaus gesucht. Er wurde aber durch harte Arbeit ein geschätzter Zahnarzt und geachteter Hochschullehrer. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht leicht. Er

"liebt seine Tochter über alles, nur ist seine Liebe zu ihr sprunghaft und unberechenbar. Einmal schlägt er sie, einmal hebt er sie in den Himmel, einmal soll sie ein braves liebes Mädchen sein, ein anderes Mal darf sie wie ein Junge toben. Vor allem aber soll Milena immer so sein, wie er es sich wünscht. Jan Jesenský, in seiner Arbeit ein für jeden Fortschritt aufgeschlossener Mann, benimmt sich zu Hause wie ein konservativer Patriarch. Milena muß ihn siezen, was in vielen Familien zu dieser Zeit nicht mehr üblich ist, und ihm sogar die Hand küssen. Und seine Schläge sind oft ungerecht."

Das war für sie unheimlich schwer. Wie soll sie damit umgehen: Entweder sie zerbricht daran oder sie begehrt auf. Diese Widersprüchlichkeiten werden ihre Spuren bei Milena hinterlassen. Glücklicherweise hatte sie wohl zu ihrer Mutter eine gute Beziehung.

Durch die Freundschaft zu der Hausmeistertochter Marie Bohácová erfährt sie den ersten Einblick in die sozialen Unterschiede, die die Menschen voneinander trennen. Sie besuchte das "Minerva"-Gymnasium, die erste Mädchenmittelschule Mitteleuropas, und pflegte schon in früher Jugend einen demonstrativ zur Schau gestellten Lebensstil mit diversen Eskapaden.

Entgegen bisherigen Annahmen, dass Milena Jesenská erst in Wien zu schreiben begann, tat sie dies schon auf dem Gymnasium. Eigentlich nicht allzu überraschend, gab es doch auf der Seite des Vaters zwei schreibende Frauen - zwei ältere Schwestern von ihm. Marie Jesenská, eine Übersetzerin aus dem Englischen, und die damals sehr geschätzte Schriftstellerin Růžena Jesenská, die Gedichte und Frauenromane schrieb.

1913, Milena ist siebzehn Jahre jung, stirbt ihre Mutter nach längerer Krankheit, während der sie von der Tochter am Nachmittag nach der Schule umsorgt wurde. Der Vater war in der Hinsicht eher empathielos, was ihm Milena bis an ihr Lebensende nicht verzieh. Und wie schon nach dem Tod des Bruders, erlebte sie auch diesmal eher eine Erleichterung. Doch sie trauert auch um den Verlust der Mutter.

Und sie testet ihre Grenzen aus. Gibt es überhaupt welche für sie? Mit ihren Freundinnen missachtet sie die Kleiderregeln, die Regeln, nach denen sich Tschechen und Deutsche in nur für sie bedachte Gegenden aufhalten. Sie gibt das Geld ihres Vaters mit vollen Händen für ihre Freundinnen aus und macht Schulden. Und das so lange, bis ihr Vater eine Anzeige in die Zeitung brachte, dass er für seine Tochter keine Rechnungen mehr bezahlen würde.

Nach der Reifeprüfung schreibt sie einen Brief an ihre Lehrerin:

"Ich will mich bei Ihnen bedanken. Nicht nur für die Matura. Für all die acht Jahre. Dafür, daß Sie mich niemals verurteilt haben für Dinge, die ich liebe, daß Sie mich als die Einzige nicht ausgelacht haben für das, was ich lese, und für das, was mir gefällt. Und dafür, daß Sie mir niemals gesagt haben, ich sei überspannt, weil ich Musik, Bilder und Bücher gerne habe. Das werde ich Ihnen nie vergessen."

Das Verhältnis zum Vater ist auch jetzt nicht besser geworden. Einerseits verlangt er von ihr das Verhalten einer braven Tochter, andererseits soll sie die Rolle des Stammhalters und Sohnes spielen und beruflich in seine Fußstapfen steigen.

Als sie den deutsch-jüdischen zehn Jahre älteren Bankangestellten Ernst Polak kennenlernt, ist der Vater außer sich. Und als sie schwanger ist, und irgendwie versucht, das Kind abzutreiben und dabei fast verblutet, weist ihr Vater sie in eine Klinik ein. Man attestiert ihr "krankhaftes Fehlen moralischer Begriffe und Gefühle". Und irgendwie bewegt sie sich tatsächlich außerhalb des Legalen: Sie fälscht z. B. Unterschriften auf Wechseln und für ihre Eskapaden muss der Vater aufkommen.

Ernst Polak und Milena heiraten und siedeln nach Wien über. Die beiden sollen zwar gemeinsam gelebt haben, doch er kümmerte sich kaum um sie, ging oft zu einer Geliebten. Währen der Umzug nach Wien für Polak ein Fortschritt war - beruflich wie auch literarisch - musste Milena neu anfangen. Doch sie passt nicht in die Literatenrunde im Central und im Herrenhof:

"Sie saß da, unter den Leuten. Sie war jung und sehr hübsch, kräftig, schön gewachsen, hatte aschblondes Haar und diesen schönen kleinen Mund. Ich dachte, was hat sie da verloren. Sie sprach sehr schlecht deutsch und konnte sich an der Diskussion kaum beteiligen",

erinnert sich Jahre später Franz Xaver Graf Schaffgotsch an seine erste Begegnung mit ihr.

Gemeint sein muss aber wohl, dass Milena den hier herrschenden Ton nicht beherrschte. Deutsch muss sie schon gekonnt haben, übersetzte sie doch schon schwierige Texte aus dem Deutschen.

Die politischen Umwälzungen - mit Ende des Krieges im Jahr 1918 findet auch der Zusammenbruch Österreichs statt - treffen das Ehepaar. Polak weigert sich, seine Frau finanziell zu unterstützen. So arbeitet Milena als Übersetzerin und schleppt Koffer auf den Wiener Bahnhöfen. Ja, sie stahl sogar Geld, um sich hübsche Kleider kaufen zu können.

Milenas Laufbahn als Korrespondentin für die "Prager Tribüne" und die "Nationalblätter" und als Kafkas Übersetzerin begann. Als die Erzählung "Der Heizer" 1920 auf Tschechisch erschien, hat zwischen Autor und Übersetzerin schon ein Briefwechsel begonnen. Dieser begann zwar beruflich, doch wurden die Schreiben bald auch persönlicher. In Kafka fand Milena endlich einen Menschen, der sich um sie sorgte und der sie verstand. Und für Kafka ist sie die erste Frau in seinem Leben, die ihm ebenbürtig ist. Schon aus ihren ersten geschriebenen Artikeln erkennt Kafka ihre Seelen- und Geistesverwandtschaft mit der großen tschechischen Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts, Božena Němcová. Ende Juni lernen sich die beiden - obwohl sich Kafka davor zunächst fürchtet - persönlich kennen. Die unbeschwerten vier Tage wirken lange in ihm nach:

"Und trotz allem glaube ich manchmal: wenn man durch Glück umkommen kann, dann muß es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben."

Zurück in Prag, löst Kafka seine Verlobung mit Julia Wohryzek. Er möchte mit Milena zusammenleben. Doch diese schafft es nicht, sich von Polak zu trennen. Ein Zusammenleben wäre auch sicherlich nicht einfach. Zu verschieden sind ihre Ansichten in Bezug auf Ehe und Sexualität und das Gesetz:

"Aber gerade dieser absolute moralische Anspruch Kafkas, seine ungeheuerliche ethische Sensibilität, macht ihn in ihren Augen zu einem außerordentlichen Menschen. Während so viele sich mit der Lüge arrangieren, lebt er in der Wahrheit. Wenn auch Milena dem Leben und seiner Realität zugewandt ist, betrachtet sie Kafkas Kompromißlosigkeit als etwas Reineres und Höheres als ihre eigene Einstellung. Sie ist allerdings für sie nicht lebbar. Besteht Milenas Radikalität darin, daß sie, ohne die Sehnsucht nach der ,besseren Welt' aufzugeben, das Leben in seiner Realität akzeptiert, dann besteht die Kafkas in der Ablehnung jeglichen Kompromisses und dem Festhalten an dem Idealen, das einzig und allein wert ist, gelebt zu werden. Es geht darum, in jedem Augenblick des Lebens der Erlösung wert zu sein, selbst wenn es keine geben sollte. Weil Milena Jesenská diese Radikalität Kafkas versteht, weiß sie auch, daß er nicht mehr gesund wird. Und sie weiß auch, daß neben ihm für sie letztlich kein Platz ist."

1925 ließ sich Milena schließlich von ihrem Mann scheiden und zog zurück nach Prag, wo die nun weltgewandt Auftretende von der tschechischen Avantgarde begeistert aufgenommen wurde. Sie wurde Redakteurin bei einer Zeitung. Es folgten glückliche Jahre. Milena schrieb nicht nur, sie war "verantwortliche Redakteurin der Frauenseite von Národni listy. Sie hat nun ein Team von Mitarbeiterinnen, die für sie schreiben oder selbst kleine Rubriken auf der Frauenseite betreuen". In dieser Generation gehören auch zum ersten Mal eine größere Anzahl von Frauen aus der gebildeten Schicht an. Während dieser Zeit weckte ihre Gesellschaftsseite Interesse, die Auflage der Zeitung wuchs.

Milena lernt im Sommer 1926 den Architekten Jaromir Krejcar kennen. In Sachen Sensibilität für die Dinge des Alltags, aber auch in seinem Leichtsinn und den Hang, unüberlegte Entscheidungen zu treffen, stand er Milena nicht nach. Aber Milena war glücklich mit ihm und bald schon kündigte sich das lang ersehnte Kind an. Doch das Glück währt nicht lange. Im vorletzten Monat der Schwangerschaft bricht bei Milena eine Gelenkentzündung aus, die ihr schwer zu schaffen macht. Wegen der geschwollenen Beine kommt das Kind, ein Mädchen, im August 1928 per Kaiserschnitt zur Welt. Milenas rechtes Bein bleibt steif und sie wird morphiumsüchtig. Der Vater, der von Krejcar gerufen wurde, machte den Vorschlag, das Baby zu sich zu nehmen und aufzuziehen. Doch Milena würde es lieber ertränken.

"Das volle Ausmaß der Tragödie Milena Jesenkás begreift man allerdings erst dann, wenn man weiß, daß ihre Gelenkentzündung gonorrhoischen Ursprungs war und es ihr eigener Mann war, der sie infiziert hat."

Ganz langsam kehrt sie ins Leben zurück. Doch ihre Arbeit verliert sie. Ihr Team ist während ihrer Krankheit auseinandergebrochen.

Milena wurde politisch tätig. Sie gehörte bislang der linken Avantgarde an, doch das Einschwenken der Kommunistischen Partei auf den Moskauer Kurs wird schwierig für sie: Eigenes Denken war dort unerwünscht. Jaromir Krejcar geht als Architekt in die Sowjetunion. Milena bleibt mit der Tochter, was praktisch das Ende der Ehe bedeutete. Sie muss mit Tochter Honza das große Haus verkaufen und in eine kleine Wohnung ziehen. Was sie nicht für möglich hielt, trat noch ein: Hinkend und süchtig erweckt sie noch die Liebe und Achtung eines Mannes: Evzen Klinger. Das Verhältnis zum Vater verschärft sich wieder: Seine Tochter arbeitet für die Kommunistische Partei und lebt mit einem Juden zusammen - er verbietet ihr das Haus. Als Milena von der Kommunistischen Partei aufgefordert wird, sich von Evzen Klinger zu trennen, geht ihr das zu weit. Sie verlässt die Partei und erlebt eine Zeit "extremer existenzieller Not und einer tiefen persönlichen Krise".

Glücklicherweise hat sie Freunde, die ihr helfen. Jemand besorgt ihr mal eine Arbeit, bei der sie unter Pseudonym schreiben kann, andere geben Geld, ja selbst vom Vater kommt wöchentlich ein Scheck, wenn die Enkeltochter bei ihm zu Besuch war. Reichen tut es trotzdem vorne und hinten nicht. Nicht nur, dass Milena immer noch nicht wirtschaften kann, nein, sie hilft damit auch gleich wieder anderen, die noch ärger dran sind als sie. Und als ob sie geahnt hätte, dass sie sich in naher Zukunft ihre Sucht in keiner Weise leisten kann, ging sie im Februar 1937 in eine Klinik zu einer Entziehungskur, die sie nach zehn Tagen geheilt verließ.

Endlich erfüllte sich auch ein Wunsch Milenas: 1937 bekommt sie eine feste Stelle bei der Wochenzeitschrift Pritomnost (Gegenwart), wo sie aktuelle politische, gründlich recherchierte Reportagen schreiben darf. Endlich ist sie das "Plappern über die Mode" los.

1939, als erst Prag und dann der Rest der Tschechoslowakei von der deutschen Wehrmacht besetzt war, wurde Milena zur Widerstandskämpferin und Fluchthelferin (für ihren Einsatz als Fluchthelferin wurde sie in Israel als "Gerechte der Nationen" ausgezeichnet.) Mit Unterstützung von Joachim von Zedtwitz, einem Adligen aus Westböhmen, der einen Wagen hat und bereit ist, die Flüchtlinge, die sich in Milenas Wohnung sammeln, an die polnische Grenze zu bringen, wo ihnen weitergeholfen werden soll.

Noch im selben Jahr wird Milena von der Gestapo verhaftet und Ende Oktober 1940 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Und auch hier half Milena anderen Menschen und kam den Neuankömmlingen mit menschlicher Wärme entgegen. Milena plante, ein Buch über das KZ zu schreiben. Einer Freundin vertraute sie ein Notizbuch an, doch diese verlor es im Chaos nach der Befreiung.

An Schriftlichem aus dem KZ sind von Milena nur "Briefe an den Vater und die Tochter übriggeblieben, und das Märchen ,Die Prinzessin und der Tintenklecks', das man nach ihre Tode auf einem vergilbten Zettel in ihrem Schreibtisch im Krankenrevier gefunden hat".

Ein Versuch von ihrem Fluchthelfer Joachim von Zedtwitz, ihre Befreiung aus dem KZ zu erreichen, scheitert schon bei den Vorbereitungen.

Milena Jesenká starb am 17. Mai 1944 an den Folgen einer Nierenoperation.


Quelle:

Alena Wagnerová: Milena Jesenská - Biographie
Fischer Taschenbuch
ISBN: 9783596132584


Zitat

"In mir aber ist eine unbezwingbare Sehnsucht, ja eine rasende Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, als ich es führe und als ich es wohl je führen werde, nach einem Leben mit einem Kinde, nach einem Leben, das der Erde sehr nahe wäre. Und das hat also wohl in mir über alles andere gesiegt, über die Liebe, über die Liebe zum Flug, über die Bewunderung und nochmals die Liebe."


Sigrid Brunk: Flammen

Erzählungen
Aus der Ullstein-Reihe "Literatur heute"


Buchinfo

Wer die Romane von Sigrid Brunk gelesen hat, weiß, daß sich durch das erzählerische Werk der Braunschweiger Autorin wie ein Leitmotiv das Thema Angst und Einsamkeit zieht. 

Auch in ihren Erzählungen begegnen uns Menschen, die sich in Krisensituationen befinden; Menschen, die versuchen, aus eigener Kraft davonzukommen. "Am Schluß jeder Geschichte wird man allein gelassen und muß das Fazit selber ziehen. Nichts geht auf, gerade wie im wirklichen Leben. In knapper, doch präziser Sprache werden die Situationen ausprobiert. Kein Wort zuviel." 

(Annette Steiner, Münchner Merkur)


Leseprobe

Wenn die Leute auf der Straße stehenbleiben und miteinander sprechen, ist es ein Klagen über diesen seit sieben Jahren heißesten Mai, der vielleicht noch quälender ist als jener vorige und wahrscheinlich noch mehr Ungeziefer, Raupen und Blattläuse, aus den zernagten Wäldern herein in die Gärten schwemmt als der dritte Sommer im Krieg, wo die kahlen bleichen Äste der Büsche an den Winter erinnerten und wo ein gefährliches, widerliches unaufhörliches Knistern vom Raupenfraß in der Luft lag. Aber all diese Erinnerungen tragen das Maß der gegenwärtigen Last, die Menschen warten auf Regen, seit drei Tagen fühlen sie das Gewitter in den Gliedern, tasten sie den Horizont ab, ob an ihm das Versprechen des großen erlösenden Schlages heraufzieht, ob die Verfinsterung endlich und mit Gewißheit sich über die Stadt schiebt, oder ob sie immer noch genarrt werden sollen.

Samstag, 13. September 2025

A. S. Byatt - die Bücher

 Besessen (1990, D 1993)

Erzählungen um Matisse (1993, D. 1996) 

Der verliebte Dschinn (1994, D. 1995) 

Die Verwandlung des Schmetterlings (1994) 

Die Geschichte von der ältesten Prinzessin und andere Märchen (1995)

Geisterbeschwörung (1995)

Geschichten von Feuer und Eis (1998, D. 2002) 

Frauen, die pfeifen (2002, D. 2006)

Geschichten von Erde und Luft (2003)

Stern- & Geisterstunden (D. 2005)

Das Buch der Kinder 

Das Schicksal der Götter (2011, D. 2012)

A. S. Byatt: Der verliebte Dschinn

Buchinfo

Die Märchenforscherin Gillian Perholt entdeckt in einem Basar in Istanbul eine geheimnisvolle verstaubte Flasche. Als sie sie gründlich reinigt, kommt nicht nur eine wundervolle blaue Farbe zum Vorschein, sondern auch ein Geist. Mühsam entwindet sich ein Dschinn dem engen Behältnis. Seit über 3000 Jahren, seit den Zeiten der Königin von Saba, war er eingeschlossen. Und ganz wie im Märchen bietet er Gillian drei Wünsche an im Tausch gegen seine Freiheit ...

Während Gillian ihre Wünsche überlegt, erzählt der Dschinn von seinem Leben in längst vergangenen Zeiten, von seinen Abenteuern, seinen Liebschaften. Sie verbringen himmlische Tage und Nächte voller Aufregungen, reisen zu verwunschenen Orten und durch die Jahrhunderte – bis Gillian eines Tages einen Wunsch ausspricht, der alles verändern wird …


Leseprobe

Zweifellos war der große Bazar lebendiger und bunter als das große Gewölbe der Hagia Sophia. Er war ein wahres Gewirr von Arkaden, von Höhlen wie der Aladins, voller Lampen und Zauberteppiche, voller Silber und Messing und Gold und Töpferwaren und Kacheln. Ehemalige Studenten Orhans saßen hier und dort hinter Ladentüren an Werkbänken, um die herum Lampen und Wassergefäße hingen, oder mit gekreuzten Beinen auf einem Teppichberg in einem Zelt aus Teppichen, und sie servierten Gillian türkischen Kaffee und Rosentee in tulpenförmigen Gläsern und zeigten ihnen ihre Waren.

A. S. Byatt: Die Verwandlung des Schmetterlings

Aus dem Englischen von Melanie Walz


Buchinfo

Von Leidenschaft und Forscherdrang, von Liebe und Verlust handelt Antonia S. Byatts Roman "Die Verwandlung des Schmetterlings". Nach "Besessen" ist ihr ein weiteres Meisterwerk zeitgenössischer Prosa gelungen: spannend und anregend, tief-, ja bisweilen abgründig und von einer enormen sinnlichen Präsenz.

 

A. S. Byatt: Erzählungen um Matisse

Buchinfo

Antonia S. Byatt hat ihre drei Erzählungen zu einem kunstvollen Triptychon arrangiert. Sie kreisen um weiblichen Alltag, allzu bequeme Arrangements, Ausbruchsversuche und Besessenheit - und um Matisse, dessen Bilder sie zu ihren Geschichten inspirierten.


Leseprobe

Debbie geht nachdenklich nach Hause. Mrs. Brown ist bereits gegangen. Robin ist verdrießlich. Er will keine Spaghetti zum Abendessen, er kann keine Pasta mehr sehen, es kommt ihm vor, als hätten sie seit zwei Wochen nichts anderes zu essen gehabt. Debbie betrachtet ihn abwägend, während er seine Fettucine mit der Gabel aufdreht, und kommt zu dem Schluß, daß sie alles in allem das Wagnis eingehen kann, im ,nichts' von Mrs. Brown und ihrer Schatzhöhle zu erzählen; er hat sich noch nie für ,A Woman's Place' interessiert, so daß sie diese Sache vor ihm geheimhalten kann, und möglicherweise kann sie auch irgendwelche Kritiken vor ihm geheimhalten, da er wenig liest, weil es ihn deprimiert.

 

Gabriele Reuter - die Bücher

 Romane

Glück und Geld. Roman aus dem heutigen Egypten. Friedrich, Leipzig 1888.

Kolonistenvolk. Roman aus Argentinien. Friedrich, Leipzig 1891. (Enßlin & Laiblin, Reutlingen 1926)

Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Fischer, Berlin 1895 (Digitalisat).
Neuausgabe: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Studienausgabe mit Dokumenten. 2 Bände. TransMIT, Marburg 2006, ISBN 3-936134-19-7 (Text) und ISBN 3-936134-20-0 (Dokumente).
Neuausgabe: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Hofenberg, Berlin 2016, ISBN 978-3-8430-8451-2.
Neuausgabe: Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines Mädchens. Nachwort von Tobias Schwartz. Reclam, Ditzingen 2024, ISBN 978-3-15-011496-4.

Frau Bürgelin und ihre Söhne. Fischer, Berlin 1899. (Vorabdruck in Fortsetzung 1898/99 in der illustrierten Zeitschrift Vom Fels zum Meer.) (Digitalisat).

Ellen von der Weiden. Ein Tagebuch. Geyer, Wien 1900. (Fischer, Berlin 1901) (Digitalisat).

Neuausgabe: Ellen von der Weiden. Ein Tagebuch. Ullstein, Berlin 1997, ISBN 3-548-24167-0.

Neuausgabe: Ellen von der Weiden. Ein Tagebuch. Hofenberg, Berlin 2017, ISBN 978-3-7437-0448-0.

Margaretes Mission. 2 Bände. DVA, Stuttgart 1904.

Liselotte von Reckling. Fischer, Berlin 1903 (Digitalisat).

Der Amerikaner. Fischer, Berlin 1907 (Digitalisat).

Neuausgabe: Der Amerikaner. Hofenberg, Berlin 2014, ISBN 978-3-8430-7297-7.

Das Tränenhaus. Fischer, Berlin 1908. (Neubearbeitung 1926)
Neuausgabe: Das Tränenhaus. Hofenberg, Berlin 2017, ISBN 978-3-7437-0446-6.

Frühlingstaumel. Fischer, Berlin 1911 (Digitalisat).

Ins neue Land. Ullstein, Berlin 1916 (Digitalisat).

Neuausgabe: Ins neue Land. Hofenberg, Berlin 2017, ISBN 978-3-7437-0442-8.

Die Jugend eines Idealisten. Fischer, Berlin 1917.

Die Herrin. Ullstein, Berlin 1918.

Neuausgabe: Die Herrin Hofenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-7437-4662-6.

Benedikta. Seyfert, Dresden 1923.

Töchter. Der Roman zweier Generationen. Ullstein, Berlin 1927.

Irmgard und ihr Bruder. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin 1930.

Neuausgabe: Irmgard und ihr Bruder. Hofenberg, Berlin 2023, ISBN 978-3-7437-4666-4.

Vom Mädchen, das nicht lieben konnte. Ullstein, Berlin 1933.

Kurzprosa, Novellen und Erzählungen

Episode Hopkins. Zu spät. Zwei Studien. Pierson, Dresden 1889.

Neuausgabe als: Episode Hopkins. Zwei Novellen. Fischer, Berlin 1897.

Der Lebenskünstler. Novellen. Fischer, Berlin 1897 (Digitalisat).

Frauenseelen. Novellen. Fischer, Berlin 1901.

Neuausgabe: Frauenseelen. Novellen. Hofenberg, Berlin 2014, ISBN 978-3-8430-7287-8.

Gunhild Kersten. Novelle. DVA, Stuttgart 1904.

Wunderliche Liebe. Novellen. Fischer, Berlin 1905 (Digitalisat).

Eines Toten Wiederkehr und andere Novellen. Reclam, Leipzig 1908.

Im Sonnenland. Erzählung aus Alexandrien. Hillger, Berlin 1914.

Vom weiblichen Herzen. Novellen. Hillger, Berlin 1917.

Essayistisches und Autobiographisches

John Henry Mackay. Eine litterarische Studie. In: Die Gesellschaft. 7, 1891, S. 1304–1314.

Marie von Ebner-Eschenbach. Schuster & Loeffler, Berlin 1904.

Neuausgabe: Ebner-Eschenbach: Eine Biographie Hofenberg, Berlin 2015, ISBN 978-3-8430-9466-5.

Annette von Droste-Hülshoff. Marquardt, Berlin 1906.

Das Problem der Ehe. 1907.

Liebe und Stimmrecht. Fischer, Berlin 1914. (in Auszügen wiederabgedruckt in: Emanzipation und Literatur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-596-23747-5, S. 204–210)

Der Krieg und die Mädchen. In: Scherls Jungmädchenbuch. Scherl, Berlin o. J. [1914], S. XI–XX.

Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Fischer, Berlin 1921.

Neuausgabe: Vom Kinde zum Menschen. Die Geschichte meiner Jugend. Hofenberg, Berlin 2017, ISBN 978-3-7437-0444-2

Grüne Ranken um alte Bilder. Ein deutscher Familienroman. Grote, Berlin 1937.

Dramen

Ikas Bild. Lustspiel. 1894.

Das böse Prinzeßchen. Ein Märchenspiel für Kinder in drei Aufzügen. Fischer, Berlin 1905 (Digitalisat).

Kinder- und Jugendbücher

Sanfte Herzen. Ein Buch für junge Mädchen. Fischer, Berlin 1909.

Was Helmut in Deutschland erlebte. Eine Jugendgeschichte. Perthes, Gotha 1917.
Neuausgabe: Was Helmut in Deutschland erlebte. Eine Jugendgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg . Hofenberg, Berlin 2022, ISBN 978-3-7437-4251-2.

Großstadtmädel. Jugendgeschichten. Ullstein, Berlin 1920.

Das Haus in der Antoniuskirchstraße. Abel & Müller, Leipzig 1927.

Grete fährt ins Glück. Weise, Berlin 1935.

A. S. Byatt: Das Buch der Kinder

Aus dem Englischen von Melanie Walz
S. Fischer Verlag, 2011


Buchinfo

A.S. Byatt - Booker-Preis Gewinnerin und von der Queen ernannte ,Dame Commander of the British Empire' - umspannt in ihrem neuen, opulenten Roman ein Vierteljahrhundert, die Jahre von 1895 bis kurz nach dem 1. Weltkrieg.

Im Süden Englands, in London, Paris und im zügellosen Schwabing suchen die Familien Wellwood, Fludd und Cairn am Ende des 19. Jahrhunderts ein freieres und erfüllteres Leben, sie proben neue Wege in Kunst und Politik, Liebe und Erziehung. Immer mit dabei sind die vielen Kinder, die sich mit ihren unterschiedlichen Talenten und Temperamenten einen Weg durch die Lebensexperimente ihrer Eltern bahnen. Aber alle Familien, auch die fortschrittlichsten, haben ihre dunklen Geheimnisse – am Ende drohen Enttäuschung, Verrat und der große Krieg.

"Das Buch der Kinder" schlägt einen weiten Bogen von England bis nach Deutschland und berührt dabei immer wieder im Kleinen, in den intimen Momenten, die ein jedes Leben unverwechselbar machen.


Buchbeginn

Zwei Knaben standen in der Prince Consort Gallery und sahen zu einem dritten hinunter. Es war der 19. Juni 1895. Der Prinzgemahl war 1861 gestorben und hatte nur die Anfänge seines ehrgeizigen Vorhabens verwirklicht gesehen, Museen zu versammeln, in denen britische Kunsthandwerker die besten Erzeugnisse ihrer Metiers studieren konnten. Sein Porträt, bescheiden und medaillengeschmückt, befand sich als Mosaik am Tympanon eines Schmuckgewölbes am einen Ende der schmalen Galerie, die oberhalb des South Court verlief.

A. S. Byatt: Besessen

Buchinfo

Der junge Literaturwissenschaftler Roland Michell gerät durch einen Zufallsfund in den Besitz eines bislang unbekannten Dokuments: Es handelt sich um den Entwurf eines Briefes, den der berühmte viktorianische Dichter Randolph Henry Ash an eine Dame zu schreiben beabsichtigte. Roland beginnt Nachforschungen anzustellen. Wurde der Brief abgeschickt? Hat sie geantwortet? Und wer war sie? Es gelingt Roland herauszufinden, wer die geheimnisvolle Adressatin war, nämlich die Lyrikerin Christabel LaMotte, und so sieht er sich gezwungen, die Wissenschaftlerin Maud Bailey, die deren Nachlaß betreut, in sein Geheimnis einzuweihen. Gemeinsam machen sie eine aufsehenerregende Entdeckung: Im Sterbezimmer der Christabel LaMotte finden sie ein Bündel Liebesbriefe - Briefe, die beweisen, daß R. H. Ash, der weltgewandte Literat und vorbildliche Ehemann, und die exzentrische Dichterin, die als alte Jungfer starb, eine leidenschaftliche Beziehung unterhalten haben, aber nicht nur das ... Unter dem Einfluß der Heimlichkeit dieser Korrespondenz beginnen die Wissenschaftler eine nicht weniger verstohlene Untersuchung der Spuren LaMottes und Ashs. Denn auch andere interessieren sich für den ominösen Briefwechsel: Rolands Doktorvater, Professor Blackadder, die militante Feministin Leonora Stern, der Ash-Forscher und -Biograph Mortimer Cropper aus den USA.

In einer stürmischen Nacht kommt es schließlich auf dem Friedhof, der Ashs sterbliche Überreste birgt, zu einer dramatischen Konfrontation aller Beteiligten am Grab des Dichters - und für den Leser zu einer ebenso überraschenden wie raffinierten Auflösung der Rätsel, Geheimnisse und kriminalistischen Plots.


Leseprobe

Ist euch jemals aufgefallen, wie still und ruhig das Wasser eines Flusses zu strömen scheint, wenn dieser sich einem Wasserfall nähert und die Wasserpflanzen unter seiner Oberfläche wie unbewegt der Strömung folgen? Unter dem dicken Glas des Sarges lag ein dichtes Gespinst langer, goldener Fäden, deren Schlingen und Knäuel ihn ausfüllten, so daß es dem Schneiderlein scheinen wollte, als sei es auf eine Kiste voll gesponnenen Goldes gestoßen, aus dem sich goldene Gewänder schneidern ließen. 

A. S. Byatt: Stern- und Geisterstunden

Eichborn-Verlag, 2005
Die Andere Bibliothek
Aus dem Englischen von Melanie Walz


Buchinfo

Zwei Kinder, die der Weltkrieg in ein abgelegenes Heim verschlagen hat, begegnen im Wald einem Monster; noch ein Menschenalter später rätseln sie, ob diese unvergeßliche, quälende Erscheinung eine Halluzination war oder ein Lindwurm. Der Untermieter einer pensionierten Lehrerin wird von einem Phantom heimgesucht; es ist der verstorbene Sohn seiner Gastgeberin, der im Garten des Hauses leibhaftig vor ihm steht. Eine Frau entdeckt, daß sie allmählich versteinert. Einem Gynäkologen stößt im Keller der Klinik, wo eine Sammlung von musealen Geburtszangen, Prothesen und Föten in Spiritus vor sich hindämmert, eine fatale Liebesgeschichte zu. A.S. Byatt erzählt solche Geschichten mit skrupulöser, quasi photographischer Genauigkeit, aber durch den vertrauten Alltag schleicht sich die Unheimlichkeit uralter Märchen ein. Eine dieser Erzählungen trägt den Titel Body Art. Er kann als Leitfaden durch das ganze Buch dienen. Denn die Traumata und Obsessionen, von denen es handelt, Trauer und Angst, Scham und Wahn -, sie gehen den Personen buchstäblich unter die Haut. Mit der Sonde ihrer Phantasie läßt Byatt, eine Meisterin des Untergründigen, den psychologischen Roman hinter sich. Sie zeigt uns vieles, was wir nie bemerkt, nie für möglich gehalten hätten, und was den Schrecken, aber das Wunder unserer Existenz ausmacht.

Freitag, 12. September 2025

Sigrid Boo: Dienstmädchen für ein Jahr (1930)

 Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Herausgegeben von Magda Birkmann und Nicole Seifert
Rowohlt Kindler 2025
rororo Entdeckungen, Band 10

Buchinfo

Eine literarische Wiederentdeckung aus dem Norwegen der dreißiger Jahre

"Hausarbeit ist nun wirklich keine Kunst." Das hätte Helga in ihrer Eifersucht auf die neue Freundin ihres Schwarms nicht sagen sollen. Denn schon ist sie eine folgenschwere Wette eingegangen: Schafft sie es, ein Jahr als Dienstmädchen durchzuhalten, muss Jørgen ihr einen Ring schenken. Dabei hat die lebenslustige junge Frau selbst nie einen Finger im Haushalt gerührt. Als sie anonym auf einem Landgut in Dienst tritt, beginnt ein neues Leben. Wo sie früher bei Festen als Gast am gedeckten Tisch saß, muss sie nun bedienen und tagein, tagaus hart arbeiten. Gleichzeitig erfährt sie unter der Dienstbotenschaft einen Zusammenhalt, den sie so noch nicht erleben durfte, besonders angetan hat es ihr Chauffeur Hans. Sie beginnt zu ahnen, was im Leben wirklich zählt. Aber was würde geschehen, wenn die anderen wüssten, wer sie wirklich ist?


Buchbeginn

Ganz ehrlich - ich war in einer absolut unterirdischen Stimmung.

So eine Stimmung erlaubte ich mir nicht gerade häufig. Meine Güte, man hatte schließlich gelernt, lächelnd durchs Leben zu gehen. Das Leben ist ein Jammertal - diese Tatsache darf man nicht zu schwer nehmen. Aber irgendwo muss auch mal Schluss sein! Wenn sich das Dasein dermaßen ärgerlich gestaltet wie an diesem Tag, ist es komplett unmöglich, sich nichts anmerken zu lassen.


Zitate

"Wir sprachen über das moderne junge Mädchen", sagte der kleine Rechtsanwalt Larsen wichtigtuerisch. "Wir haben darüber diskutiert, wieweit sie etwas taugt oder nicht."


Oberflächlich betrachtet sind wir so verschieden wie Nacht und Tag, aber diese Unterschiede reichen nicht sehr tief. Wir haben so ungefähr die gleichen Einstellungen, lachen über dasselbe, sind gerührt von demselben, ärgern uns über dasselbe. Ich will zwar nicht behaupten, ich besäße in dieser Hinsicht umwerfende Erfahrung, aber ich glaube doch, das ist das Wichtigste für zwei, die fürs Leben ihren Kram zusammenschmeißen wollen. Auf diese Weise entdeckt man später nicht, dass man einen wildfremden Menschen geheiratet hat.


Nenn mich nicht stur, wenn wir das schöne Wort charakterfest haben!

Dora Alonso

Die kubanische Journalistin und Schriftstellerin Dora Alonso, eigentlich Doralina de la Caridad Alonso Pérez, lebte vom 22. Dezember 1910 bis zum 21. März 2001. Ihre ersten Schreibversuche tat sie schon während der Schulzeit. 1933 wurde sie Redaktionsmitglied der Zeitung Prensa Libre. Ein Jahr später schloss sie sich der anti-imperialistischen Organisation Joven Cuba an und lernte dort auch den Revolutionär Constantino Barredo Guerra kennen, mit dem sie bis 1938 eine Beziehung (einschließlich gemeinsamer revolutionärer Aktivitäten) hatte. Ab 1942 begann sie bei der Zeitschrift Lux, die ihre ersten Interviews mit mehreren Persönlichkeiten und politischen Persönlichkeiten wie Ti Tsun Li (chinesischer Botschafter in Kuba ) und dem chilenischen Dichter Pablo Neruda enthielt .

Dora Alonso schrieb für verschiedene Radiosender und es folgten erste Kinderbücher. Ihre beiden Romane Tierra brava und Soy el Batey wurden verfilmt. Sie schrieb Theaterdrehbücher für das kubanische Puppentheater Pelusín del Monte, eine kubanische Fernsehshow.

Für ihre Kinderbücher war Dora Alonso bekannt, sie wurden übersetzt und in verschiedensten Ländern vertrieben.

Eines ihrer berühmtesten Bücher, Das Jahr 1961, schildert ihre Erfahrungen während der Invasion in der Schweinebucht als Kriegsberichterstatterin in Playa Girón, Kuba. Es wurde mit dem Casa de las Américas Award ausgezeichnet.

Quelle: deutsche und englische Wikipedia


Den Sprung nach Deutschland hat die Autorin anscheinend nicht geschafft. Ich habe keine ins Deutsche übersetzte Bücher von ihr finden können. Ein Text hat es allerdings in die DDR-Reihe "Erkundungen geschafft: 33 kubanische Erzähler", 1976 erschienen im Verlag Volk und Welt.


Leseprobe

Die Augen Simóns

Als Simóns Mutter, eine friedfertige N*** mit ungebändigtem Kraushaar, starb, erbte er das Zimmer. Am anderen Tag kehrte er das Unterste nach oben, in der Hoffnung, etwas mehr zu finden als den geflickten Thronhimmelaltar aus indigoblauem Atlas, von dem die mit Perlenschnüren behangene Jungfrau von Regla mit verständnisvollen Augen herabblickte. Das ganze Erbe war der Schaukelstuhl der verstorbenen Santera, ihr Weihkörbchen voller Kultgegenstände, das Bett mit der geblümten Decke, Spirituskocher, Kochtopf, der Tisch und eine Petroleumlampe mit verräuchertem Zylinder, bedeckt mit schläfrigen Fliegen.

Von der Brücke, die die Stadtteile Marianao und La Lisa miteinander verbindet, ist die unregelmäßig gestreute Häuseransammlung gut zu sehen. Hier wurde Simón geboren, und er empfand die ganze Umgebung als Teil seines Zuhause: Buschwerk, Gemeinschaftshöfe und die Pfützen des wasserarmen Flusses, wo die Anlieger den Müll hineinkippten, tauchten und Krabben fingen...