"Sie ist ein lebendiges Feuer, wie ich es noch nie gesehen habe", schrieb Franz Kafka über Milena Jesenská. - Milena Jesenská - Kafka-Freunden wird sie sicherlich zumeist nur als Milena bekannt sein. So ging sie zumindest in die Literaturgeschichte ein. Franz Kafka hat sie mit seinen Liebesbriefen unsterblich gemacht. Doch sie war mehr als nur die Empfängerin hinreißender Liebesbriefe (ihre eigenen Briefe an Kafka sind leider verschollen). „Milena Jesenská war eine begnadete Journalistin, mit einer großen Empathie, (…) ein weiblicher Egon Erwin Kisch“, sagt Milena-Biografin Alena Wagnerova.
Milena Jesenská wuchs in einem Haus an der Grenze zwischen der Prager Alt- und Neustadt, das war damals die Obstgasse 17, als Einzelkind auf. Als sie drei Jahre alt war, bekam sie zwar noch einen Bruder, doch er überlebte nur sechs Monate lang. Sie war in einem Zwiespalt: Alle kümmerten sich nur um das kranke Baby, sie fühlte sich zurückgesetzt und ungeliebt. Als er starb, trauert sie zwar, empfindet aber auch Erleichterung, für die sie sich schämt. Sie wird ihren Bruder nie vergessen, bittet Kafka später, sein Grab zu besuchen. Ihr Vater, der Prager Zahnarzt Jan Jesenský, hatte in diesem Haus auch jahrelang seine Praxis. Um sein Studium zu finanzieren, hatte er sich eine Frau aus reichem Elternhaus gesucht. Er wurde aber durch harte Arbeit ein geschätzter Zahnarzt und geachteter Hochschullehrer. Das Verhältnis zu ihrem Vater ist nicht leicht. Er
"liebt seine Tochter über alles, nur ist seine Liebe zu ihr sprunghaft und unberechenbar. Einmal schlägt er sie, einmal hebt er sie in den Himmel, einmal soll sie ein braves liebes Mädchen sein, ein anderes Mal darf sie wie ein Junge toben. Vor allem aber soll Milena immer so sein, wie er es sich wünscht. Jan Jesenský, in seiner Arbeit ein für jeden Fortschritt aufgeschlossener Mann, benimmt sich zu Hause wie ein konservativer Patriarch. Milena muß ihn siezen, was in vielen Familien zu dieser Zeit nicht mehr üblich ist, und ihm sogar die Hand küssen. Und seine Schläge sind oft ungerecht."
Das war für sie unheimlich schwer. Wie soll sie damit umgehen: Entweder sie zerbricht daran oder sie begehrt auf. Diese Widersprüchlichkeiten werden ihre Spuren bei Milena hinterlassen. Glücklicherweise hatte sie wohl zu ihrer Mutter eine gute Beziehung.
Durch die Freundschaft zu der Hausmeistertochter Marie Bohácová erfährt sie den ersten Einblick in die sozialen Unterschiede, die die Menschen voneinander trennen. Sie besuchte das "Minerva"-Gymnasium, die erste Mädchenmittelschule Mitteleuropas, und pflegte schon in früher Jugend einen demonstrativ zur Schau gestellten Lebensstil mit diversen Eskapaden.
Entgegen bisherigen Annahmen, dass Milena Jesenská erst in Wien zu schreiben begann, tat sie dies schon auf dem Gymnasium. Eigentlich nicht allzu überraschend, gab es doch auf der Seite des Vaters zwei schreibende Frauen - zwei ältere Schwestern von ihm. Marie Jesenská, eine Übersetzerin aus dem Englischen, und die damals sehr geschätzte Schriftstellerin Růžena Jesenská, die Gedichte und Frauenromane schrieb.
1913, Milena ist siebzehn Jahre jung, stirbt ihre Mutter nach längerer Krankheit, während der sie von der Tochter am Nachmittag nach der Schule umsorgt wurde. Der Vater war in der Hinsicht eher empathielos, was ihm Milena bis an ihr Lebensende nicht verzieh. Und wie schon nach dem Tod des Bruders, erlebte sie auch diesmal eher eine Erleichterung. Doch sie trauert auch um den Verlust der Mutter.
Und sie testet ihre Grenzen aus. Gibt es überhaupt welche für sie? Mit ihren Freundinnen missachtet sie die Kleiderregeln, die Regeln, nach denen sich Tschechen und Deutsche in nur für sie bedachte Gegenden aufhalten. Sie gibt das Geld ihres Vaters mit vollen Händen für ihre Freundinnen aus und macht Schulden. Und das so lange, bis ihr Vater eine Anzeige in die Zeitung brachte, dass er für seine Tochter keine Rechnungen mehr bezahlen würde.
Nach der Reifeprüfung schreibt sie einen Brief an ihre Lehrerin:
"Ich will mich bei Ihnen bedanken. Nicht nur für die Matura. Für all die acht Jahre. Dafür, daß Sie mich niemals verurteilt haben für Dinge, die ich liebe, daß Sie mich als die Einzige nicht ausgelacht haben für das, was ich lese, und für das, was mir gefällt. Und dafür, daß Sie mir niemals gesagt haben, ich sei überspannt, weil ich Musik, Bilder und Bücher gerne habe. Das werde ich Ihnen nie vergessen."
Das Verhältnis zum Vater ist auch jetzt nicht besser geworden. Einerseits verlangt er von ihr das Verhalten einer braven Tochter, andererseits soll sie die Rolle des Stammhalters und Sohnes spielen und beruflich in seine Fußstapfen steigen.
Als sie den deutsch-jüdischen zehn Jahre älteren Bankangestellten Ernst Polak kennenlernt, ist der Vater außer sich. Und als sie schwanger ist, und irgendwie versucht, das Kind abzutreiben und dabei fast verblutet, weist ihr Vater sie in eine Klinik ein. Man attestiert ihr "krankhaftes Fehlen moralischer Begriffe und Gefühle". Und irgendwie bewegt sie sich tatsächlich außerhalb des Legalen: Sie fälscht z. B. Unterschriften auf Wechseln und für ihre Eskapaden muss der Vater aufkommen.
Ernst Polak und Milena heiraten und siedeln nach Wien über. Die beiden sollen zwar gemeinsam gelebt haben, doch er kümmerte sich kaum um sie, ging oft zu einer Geliebten. Währen der Umzug nach Wien für Polak ein Fortschritt war - beruflich wie auch literarisch - musste Milena neu anfangen. Doch sie passt nicht in die Literatenrunde im Central und im Herrenhof:
"Sie saß da, unter den Leuten. Sie war jung und sehr hübsch, kräftig, schön gewachsen, hatte aschblondes Haar und diesen schönen kleinen Mund. Ich dachte, was hat sie da verloren. Sie sprach sehr schlecht deutsch und konnte sich an der Diskussion kaum beteiligen",
erinnert sich Jahre später Franz Xaver Graf Schaffgotsch an seine erste Begegnung mit ihr.
Gemeint sein muss aber wohl, dass Milena den hier herrschenden Ton nicht beherrschte. Deutsch muss sie schon gekonnt haben, übersetzte sie doch schon schwierige Texte aus dem Deutschen.
Die politischen Umwälzungen - mit Ende des Krieges im Jahr 1918 findet auch der Zusammenbruch Österreichs statt - treffen das Ehepaar. Polak weigert sich, seine Frau finanziell zu unterstützen. So arbeitet Milena als Übersetzerin und schleppt Koffer auf den Wiener Bahnhöfen. Ja, sie stahl sogar Geld, um sich hübsche Kleider kaufen zu können.

Milenas journalistische Laufbahn begann als Korrespondentin für die Prager Tribüne und die Nationalblätter. Zugleich übersetzte sie Franz Kafka ins Tschechische. Als 1920 die Erzählung Der Heizer in tschechischer Übersetzung erschien, standen Autor und Übersetzerin bereits in Briefkontakt. Was zunächst ein rein beruflicher Austausch war, entwickelte sich rasch zu einem intensiven, persönlichen Briefwechsel. In Kafka fand Milena endlich einen Menschen, der sie verstand und sich um sie sorgte.Und für Kafka war sie die erste Frau in seinem Leben, die ihm ebenbürtig ist. Schon aus ihren ersten Artikeln erkennt Kafka ihre Seelen- und Geistesverwandtschaft mit Božena Němcová, eine der bedeutendsten tschechischen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts. Ende Juni lernen sich die beiden schließlich persönlich kennen - obwohl Kafka sich zuvor davor gefürchtet hatte. Die unbeschwerten vier Tage wirken lange in ihm nach. Kafka schrieb ihr nach dem Treffen:
"Und trotz allem glaube ich manchmal: wenn man durch Glück umkommen kann, dann muß es mir geschehn. Und kann ein zum Sterben Bestimmter durch Glück am Leben bleiben, dann werde ich am Leben bleiben."
Nach den intensiven Tagen mit Milena kehrte Kafka nach Prag zurück und löste seine Verlobung mit Julia Wohryzek. Er möchte mit Milena zusammenleben. Doch sie kann sich nicht von ihrem Ehemann Ernst Polak lösen. Ein Zusammenleben wäre auch sicherlich nicht einfach. Zu verschieden sind ihre Ansichten in Bezug auf Ehe und Sexualität und das Gesetz. Alena Wagnerová beschreibt dieses Spannungsverhältnis so:
"Aber gerade dieser absolute moralische Anspruch Kafkas, seine ungeheuerliche ethische Sensibilität, macht ihn in ihren Augen zu einem außerordentlichen Menschen. Während so viele sich mit der Lüge arrangieren, lebt er in der Wahrheit. Wenn auch Milena dem Leben und seiner Realität zugewandt ist, betrachtet sie Kafkas Kompromißlosigkeit als etwas Reineres und Höheres als ihre eigene Einstellung. Sie ist allerdings für sie nicht lebbar. Besteht Milenas Radikalität darin, daß sie, ohne die Sehnsucht nach der ,besseren Welt' aufzugeben, das Leben in seiner Realität akzeptiert, dann besteht die Kafkas in der Ablehnung jeglichen Kompromisses und dem Festhalten an dem Idealen, das einzig und allein wert ist, gelebt zu werden. Es geht darum, in jedem Augenblick des Lebens der Erlösung wert zu sein, selbst wenn es keine geben sollte. Weil Milena Jesenská diese Radikalität Kafkas versteht, weiß sie auch, daß er nicht mehr gesund wird. Und sie weiß auch, daß neben ihm für sie letztlich kein Platz ist."
1925 ließ sich Milena schließlich von ihrem Mann scheiden und kehrte nach Prag zurück. Dort wurde die nun weltgewandt auftretende Journalistin von der tschechischen Avantgarde begeistert aufgenommen. Sie übernahm eine Redakteursstelle bei der Zeitung Národní listy. Es folgten glückliche Jahre. Milena schrieb nicht nur, sie war, wie es in der Biografie heißt, "verantwortliche Redakteurin der Frauenseite von Národní listy. Sie hatte nun ein Team von Mitarbeiterinnen, die für sie schreiben oder selbst kleine Rubriken auf der Frauenseite betreuen". In dieser Generation gehörte erstmals eine größere Zahl von Frauen aus der gebildeten Schicht dazu. Während dieser Zeit weckte ihre Gesellschaftsseite Interesse, die Auflage der Zeitung wuchs.
Milena lernt im Sommer 1926 den Architekten Jaromir Krejčar kennen. In seiner Sensibilität für die Dinge des Alltags, aber auch in seinem Leichtsinn und der Neigung zu unüberlegten Entscheidungen ähnelte er Milena sehr. Milena war glücklich mit ihm und bald kündigte sich das lang ersehnte Kind an. Doch dieses Glück sollte nicht von Dauer sein. Im vorletzten Monat ihrer Schwangerschaft brach bei Milena eine schwere Gelenkentzündung aus. Wegen der starken Schwellungen an den Beinen wurde das Kind, ein Mädchen, im August 1928 per Kaiserschnitt geboren. Als Folge der Krankheit blieb Milenas rechtes Bein steif; die Schmerzen führten sie in eine Morphiumabhängigkeit. Ihr Vater, den Krejčar in seiner Sorge herbeirief, schlug vor, das Baby zu sich zu nehmen und selbst aufzuziehen. Milena jedoch reagierte verzweifelt – sie sagte, sie würde es lieber ertränken. Wagnerová schreibt dazu:
"Das volle Ausmaß der Tragödie Milena Jesenkás begreift man allerdings erst dann, wenn man weiß, daß ihre Gelenkentzündung gonorrhoischen Ursprungs war und es ihr eigener Mann war, der sie infiziert hat."
Ganz langsam kehrt sie ins Leben zurück. Doch ihre Arbeit hatte sie verloren - ihr Team war während der langen Krankheit auseinandergebrochen.
In diesen Jahren begann Milena, sich auch politisch zu engagieren. Zunächst stand sie der linken Avantgarde nahe, doch das Einschwenken der Kommunistischen Partei auf den Moskauer Kurs wurde für sie zunehmend schwierig: Eigenständiges Denken war dort unerwünscht. Jaromir Krejčar geht als Architekt in die Sowjetunion. Milena blieb mit ihrer Tochter Honza in Prag zurück – das bedeutete praktisch das Ende der Ehe. Sie musste das große Haus verkaufen und in eine kleine Wohnung ziehen. Was sie selbst kaum für möglich gehalten hatte, trat ein: Hinkend und morphiumsüchtig weckte sie dennoch die Liebe und Achtung eines Mannes – Evžen Klinger. Das Verhältnis zu ihrem Vater verschärfte sich erneut: Seine Tochter arbeitete nun für die Kommunistische Partei und lebte mit einem Juden zusammen – er verbot ihr den Zutritt zum Haus. Als Milena von der Kommunistischen Partei aufgefordert wurde, sich von Evžen Klinger zu trennen, ging ihr das zu weit. Sie trat aus der Partei aus und erlebt eine Zeit "extremer existenzieller Not und einer tiefen persönlichen Krise".
Glücklicherweise hatte sie Freunde, die ihr helfen. Ein Freund vermittelte ihr gelegentlich Schreibaufträge, bei denen sie unter Pseudonym veröffentlichen konnte; andere halfen mit Geld, und selbst ihr Vater schickte wöchentlich einen Scheck, wenn die Enkeltochter bei ihm gewesen war. Dennoch reichte das Geld bei weitem nicht zum Leben. Milena konnte zwar noch immer nicht mit Geld umgehen – doch sie teilte das Wenige, das sie hatte, großzügig mit anderen, denen es noch schlechter ging. Als hätte sie geahnt, dass sie sich ihre Sucht bald nicht mehr würde leisten können, begab sie sich im Februar 1937 in eine Klinik zur Entziehungskur, die sie nach zehn Tagen geheilt verließ.
Endlich erfüllte sich auch ein Wunsch Milenas: 1937 erhielt sie eine feste Stelle bei der Wochenzeitschrift Přítomnost (‚Gegenwart‘), wo sie aktuelle, gründlich recherchierte politische Reportagen schreiben konnte. Damit hatte sie sich endlich von den oberflächlichen Frauenthemen befreit, die sie so lange einschränkten.
1939, nach der Besetzung Prags und später der gesamten Tschechoslowakei durch die deutsche Wehrmacht, schloss sich Milena dem Widerstand an. Sie half verfolgten Menschen bei der Flucht – ein Einsatz, für den sie später in Israel als ‚Gerechte unter den Völkern‘ geehrt wurde. „Unterstützt wurde sie dabei von Joachim von Zedtwitz, einem westböhmischen Adligen, der mit seinem Wagen Flüchtlinge aus Milenas Wohnung bis an die polnische Grenze brachte, wo Helfer sie weiterleiteten.“
Noch im selben Jahr wurde Milena von der Gestapo verhaftet und Ende Oktober 1940 in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Auch dort half Milena anderen Häftlingen und kam den Neuankömmlingen mit menschlicher Wärme. Milena hatte geplant, nach dem Krieg ein Buch über ihre Erfahrungen im Lager zu schreiben. Sie vertraute einer Mitgefangenen ein Notizbuch an, doch dieses ging im Chaos der Befreiung verloren.
Von Milenas schriftlichem Nachlass aus der Lagerzeit sind nur "Briefe an den Vater und die Tochter übriggeblieben, und das Märchen ,Die Prinzessin und der Tintenklecks', das man nach ihrem Tode auf einem vergilbten Zettel in ihrem Schreibtisch im Krankenrevier gefunden hat".
Ein Versuch ihres früheren Fluchthelfers Joachim von Zedtwitz, ihre Befreiung aus dem Lager zu organisieren, scheiterte bereits in der Vorbereitung.
Milena Jesenká starb am 17. Mai 1944 im Konzentrationslager Ravensbrück an den Folgen einer Nierenoperation. Ihr Mut, ihre Unabhängigkeit und ihre Menschlichkeit machten sie zu einer der eindrucksvollsten Persönlichkeiten ihrer Zeit.
Quelle:
Alena Wagnerová: Milena Jesenská - Biographie
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996
ISBN: 9783596132584
Zitat
"In mir aber ist eine unbezwingbare Sehnsucht, ja eine rasende Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, als ich es führe und als ich es wohl je führen werde, nach einem Leben mit einem Kinde, nach einem Leben, das der Erde sehr nahe wäre. Und das hat also wohl in mir über alles andere gesiegt, über die Liebe, über die Liebe zum Flug, über die Bewunderung und nochmals die Liebe."